top of page

Zwei Jahre Eastplaining. Eine Bilanz.

Letzte Woche kam mir in den Sinn, alle bisherigen Blogbeiträge für meine Großeltern einmal auszudrucken. Dabei kam ich auf erstaunliche 187 Seiten (nachdem ich schon die Schriftgröße verkleinert hatte, um nicht wegen der gestiegenen Papier- und Tintenpreise Privatinsolvenz anmelden zu müssen). Nun schreiben wir schon seit zwei Jahren alle zwei Wochen Beiträge zu ostdeutschen Themen - am 15. April jährte sich der erste Beitrag zum zweiten Mal - welcher Anlass könnte sich besser für eine kleine Bilanz eignen?

Ich war wirklich erstaunt und überrascht, diese Fülle an Beiträgen in gedruckter Fassung vor mir zu sehen. Schon vorher hatte ich beim Zusammenfügen des Dokuments immer wieder pausiert und darin gelesen. Was stellte ich fest? Etwas, das mir immer entgegenspringt, wenn ich alte Schreibereien von mir lese: "Das würde ich heute ganz anders schreiben!"

Dieser Beitrag möchte eine kleine Chronik aufzeigen. Gerade in der letzten Zeit werden wir immer wieder danach gefragt, wie das alles anfing und warum wir immer noch dabei sind. Ich werde viel verlinken mit der herzlichen Einladung an alle, sich auch mal durch unsere alten Beiträge zu klicken. Und außerdem möchte ich  dafür plädieren: Es ist in Ordnung, sich weiterzuentwickeln.


Im Februar 2023 begannen wir mit den Plänen für den Blog, ausgelöst durch meine Genervtheit von Mitstipendiat:innen im Sprachkurs, die sich immer wieder abwertend über Ostdeutschland äußerten. Aber diese Erfahrungen in Barcelona, die ich machte, waren nicht die Ursache, sondern lediglich der Anlass, der uns zeigte: Etwas muss sich ändern. Schon seitdem wir uns im April 2022 kennenlernten, sprachen wir häufiger über unsere Herkunft und die damit verbundenen Ungleichheiten und Lösungsaspekte. Wir waren zu Ostdeutschen gemacht worden, und ostdeutsch war negativ konnotiert, als etwas minderwertiges, teilweise lächerliches, aber gleichzeitig irrelevantes und besonders: von Nazis behaftetes Thema. Aber unsere Erfahrung, unser Großwerden und Leben in diesem Teil des Landes unterschied sich so signifikant von dessen medialer Wahrnehmung, dass wir dieses "ostdeutsch" neu konnotieren und das der Welt auch mitteilen wollten. Wir schreiben beide gerne - also eben ein Blog. Der Westen erklärte in unserer Wahrnehmung ständig den Osten - also wollten wir unsere Perspektive, ein Eastplaining, hinzufügen.


Ich erinnere mich daran, wie wir gleich zu Beginn eine Liste mit möglichen Themen erstellten, die uns am Herzen lagen und die wir gerne bearbeiten würden. Und dann fingen wir einfach an. 

Wenn ich jetzt die ersten Beiträge lese, finde ich darin viele Emotionen, viele Gefühle, die endlich durch die Oberfläche brechen konnten. Vieles davon schreibe ich heute nicht mehr so, einiges würde ich als undifferenziert bezeichnen, aber ich glaube, dass all das zu Beginn notwendig war und mir geholfen hat, den Nerv der Sache zu treffen. Viele Verletzungen durch und Unverständnis über die aktuellen und historisch gewachsenen Zustände spiegeln sich dort, aber auch gerade das hat unsere Leser:innenschaft erreicht. Menschen sagten uns: Endlich schreibt jemand das, was ich immer gefühlt habe, aber wofür ich nie die richtigen Worte fand. 

Und wir schrieben weiter. Über Regiolekte, über sehenswerte Orte im Osten, die politische Situation und was sie mit uns macht, Kultur, unsere (ost)deutschen Erfahrungen im Ausland. Immer mehr Menschen lasen unsere Worte. Wir begannen, auch DDR-Geschichte stärker in unseren Beiträgen zu thematisieren und einzelne Aspekte tiefer aufzuarbeiten. Außerdem - das hätten wir uns noch ein halbes Jahr vorher nicht vorstellen können - begannen wir mit der vErNetZuNg (man merkt, ich finde das immer noch etwas merkwürdig, und ja, ich bin mir der Tatsache bewusst, dass ich vor anderthalb Jahren mal schrieb, ich würde "demnächst" einen Beitrag zu Osten und Selbstvermarktung machen, der kommt noch, versprochen). Aber ich tauchte sogar beim N5-Symposium in Erfurt auf, und auch im Folgejahr waren wir beide in Leipzig vertreten. Wir lernten so viele wunderbare Ost-Projekte kennen, besonders auch aus unserer eigenen Generation, und knüpften Kontakte. 


Dann führten wir unser erstes Interview mit der Autorin Grit Poppe durch. Ein großer Moment (vor allem für mich, die ich ihre Bücher seit 2017 kenne und äußerst schätze). Und wir schrieben weiter, über Erinnerungskultur, Stasi-Erfahrungen, Medien im Osten. Wir sprachen mit Ulrike Tabor von der Kurkinder-Initiative, was in unserem mit Abstand bekanntesten Beitrag mündete und hoffentlich die Verbreitung der Anliegen unterstützt. Wir setzten uns im Wahljahr 2024 besonders intensiv mit Politik auseinander und trafen in Görlitz den Bundespräsidenten. Auch im Podcast Menschen.Leben.Osten waren wir zu Gast. 

Wir boten (und bieten!) Menschen, die sich auf wissenschaftlicher Ebene mit ostbezogenen Themen befassen, eine Plattform, um über ihre Einrichtungen hinaus über ihre Arbeit zu sprechen und zu schreiben - so Alicia Strobach über Stipendienbewerbungen im Osten und Jakob Vogel über Erziehung in der DDR. Und wir trafen weitere großartige Menschen für Interviews - so dieses Jahr Sabine Michel und Dörte Grimm mit ihren Büchern zu Generationengespräche Ost und Alexander Teske vom Wochenkrippenverein

Dazwischen schrieben wir immer wieder Beiträge über die unterschiedlichsten Themen, und in der letzten Zeit findet sich darin viel von der aktuellen Politik


Was haben wir erreicht? Wo sind wir nun? Was ist uns wichtig? 

Wir machen uns immer wieder Gedanken darüber, wen wir eigentlich erreichen. Zu unserem ursprünglichen Familien- und Bekanntenkreis gesellten sich zahlreiche weitere Leser:innen mit unterschiedlichem Hintergrund, aber noch arbeiten wir weiterhin daran, gerade jene zu erreichen, die unseren Inhalten widersprechen würden. Das ist unser Ziel für die nächste Zeit. Die Themen gehen uns jedenfalls nicht aus. Wir möchten mehr über migrantische Perspektiven im Osten sprechen, über intersektionale soziale Ungerechtigkeiten, über Lösungsansätze.


Vieles hat sich in den zwei Jahren gewandelt: sowohl in unserem persönlichen Leben, in unserer Wahrnehmung, als auch in der Weltgeschichte. Das hat immer wieder beeinflusst, wie und worüber wir schreiben. Ich finde, wir sind reflektierter geworden, zielgerichteter, breiter aufgestellt, aber auch selbstbewusster und mutiger. Wir möchten weiterhin eine ostdeutsche Perspektive unserer Generation zur gesellschaftlichen Debatte beitragen, Politik kommentieren und beeinflussen, die DDR aufarbeiten (wenigstens dabei unterstützen!), von Kultur im Osten berichten (es gibt sie) - nun sogar auf unserer eigenen Website. Es war sehr interessant, diese alten Beiträge durchzugehen. Sie zeigen unsere Entwicklung und verdeutlichen, dass wir uns weiterentwickelt haben. Und wenn wir in zwei weiteren Jahren zurückblicken, hoffe und erwarte ich, dass wir uns genauso erfreut wie jetzt erst auf die Schulter klopfen und dann weiterschreiben können. 

Dass ihr alle uns auf diesem Weg begleitet, finden wir großartig und sind euch sehr dankbar. Jeder Kommentar, ob on- oder offline, jede Weiterleitung unserer Beiträge, jedes Gespräch war und ist uns eine große Hilfe. 

Dass ostdeutsche Themen relevant sind und bleiben, zeigt sich jeden Tag in den Nachrichten. Wir bleiben dran.

Auf in die nächsten Jahre! Wir sind bereit.


Weronika 


 
 
 

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Comments


bottom of page