Oma, Opa, wie war das mit der Stasi?
- Eastplaining Blog
- 2. Mai 2024
- 13 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 4. März
Natürlich ist es spannend, wenn wir aus unserer Perspektive über den Osten berichten (das hoffen wir zumindest). Aber wenn es um die DDR geht, mussten wir nicht am eigenen Leib erfahren, wie es war, in einer Gesellschaft mit konstanter Überwachung zu leben. Deshalb finden wir es besonders wichtig, jene Menschen sprechen zu lassen, die in diesem Unrechtsstaat gelebt haben und dort wechselseitige Erfahrungen machten. Ein Thema, das viele von ihnen beschäftigt hat, war das Ministerium für Staatssicherheit, besser als "Stasi" bekannt. Sie war "Schild und Schwert der SED, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, hatte hauptamtliche und inoffizielle Mitarbeiter*innen. Ein Großteil der Bevölkerung wurde bespitzelt, und man konnte sich nie sicher sein, ob nicht sogar jemand aus dem eigenen Umfeld Informationen an die Stasi weiterleitete. Das führte dazu, dass viele Menschen sich nicht mehr trauten, frei zu sprechen. "Guck und Horch" wussten oftmals beinahe besser Bescheid über einen selbst als die eigenen Freund*innen. Die Informationen nutzte die Stasi, um den Leuten das Leben zu erschweren: schlechtere Ausbildungs- und Berufschancen, Einschüchterung, bis hin zur Zermürbung war alles dabei. Das Ziel: systemtreue Bürger*innen erziehen und allen anderen klarmachen, dass sie bei fehlender Anpassung nie ein glückliches Leben mit verwirklichtem Potenzial in der DDR führen würden könnten.
Am 25. März 2024 besuchten Hanna und ich meine Großeltern, um mit ihnen über ihre Erfahrungen mit der Stasi zu sprechen. Meine Oma, Ärztin, ist katholisch, mein Opa, Ingenieur und Eisenbahner, evangelisch. Beide wurden 1940 geboren und haben die komplette DDR-Zeit erlebt. Sie lernten in dieser Zeit, holten ihr Abitur an der Arbeiter- und Bauernfakultät nach - dort lernten sie sich kennen - studierten, arbeiteten und zogen zwei Kinder - meinen Vater und meinen Onkel - groß. Im folgenden Teil dieses Beitrags möchte ich die Stimmen meiner Großeltern zu Wort kommen lassen. Sie berichten von Erlebnissen, Teilen ihrer Lebensgeschichte.
Oma:Ich würde sagen, der Anfang mit der Stasi war im Kindesalter. Wenn die Kinder in die Schule kommen, sind sie ja noch ein bisschen bedürftig, ein bisschen anhänglich. Wenn du mit denen nicht redest, dann erzählen sie auch das, was sie nicht sollen.Kinder haben das ja noch nicht drauf, dass sie unterscheiden können: Das darfst du sagen und das darfst du nicht sagen. Und so wurde in der DDR versucht, die Kinder schon in der ersten Klasse zu sensibilisieren, dass man die Ohren weit aufmachen muss.Wenn was auffällig ist, muss man das melden. Da wird man belobigt. So kam es dann, dass die Kinder schon in der ersten Klasse gefragt worden sind: Welche Fernsehsendung habt ihr denn so gesehen?Und eure Mitschüler, ihr sprecht doch da sicher auch drüber, welche Sendung ihr zu Hause schaut. Da wusste man dann auch, welcher Sender das war – ob Ost oder West. Und schon waren sie aufgeschrieben.Das ging schnell! Es ist eben schlimm, dass du den Kindern sagen musst, du darfst das nicht sagen.
Weronika:Ihr musstet ja aufpassen, dass mein Papa und mein Onkel bestimmte Sachen nicht erzählen. Wie habt ihr das gemacht? In der Schule oder überhaupt in der Öffentlichkeit?Gerade auch, was die Kirche angeht?
Oma: Naja, die Kinder sind schon so erzogen. Das darf ich, das darf ich nicht. Obwohl ich das eigentlich müsste, denn in der Schule werden sie aufgefordert, drüber zu sprechen.Und sagst du Nein, dann hast du auch wieder gelogen. Das ist auch nicht gerade schön. Das ist erzieherisch für die Kinder sehr, sehr schwierig.
Opa:Wisst ihr noch, bei der Wallfahrt gab es so ein Heft zu kaufen. Und da stand etwas übers Beichten: Die DDR ist ein System, was unrechtmäßig angelegt ist, es anzulügen ist keine Sünde und muss nicht gebeichtet werden.
Oma:Ja, die Stasi hat es verstanden, die Kinder auszuhorchen.Die Lehrer wurden genauso bespitzelt. Dann kam es darauf an, wie der Lehrer reagiert. Wenn ein Kind was erzählt und der will weiterhorchen, dann kannst du als Lehrer sagen, erzähl mal, erzähl mal.Und wer sagt, das kann gefährlich werden, der sagt, das wollen wir nicht wissen, das geht jetzt zu weit. Unser jüngerer Sohn war in der ersten Klasse, da kam die Lehrerin auf Gott zu sprechen. Ein Kind gesagt, ja wer ist denn das eigentlich?Der Gott. Und da hat sie versucht, das kindgerecht zu erklären und gesagt: Manche Menschen glauben an Gott und manche glauben nicht an Gott. Das bleibt jedem überlassen.Ein Kind fragte dann: Und glauben Sie denn an Gott? Das ist für die Lehrerin dann auch schwierig. Sie hat Ja gesagt, und bestimmt haben einige Kinder das zu Hause erzählt. Es hatte aber keine Konsequenzen, der Direktor der Schule war recht anständig und hat das wohl nicht weitergegeben.
Das konnte aber auch ganz anders laufen. Aus meiner Klasse durften vier Abitur machen und haben sich für Medizin beworben. Nach zwei Monaten im Studium sind sie rausgeflogen, weil sie zur Jungen Gemeinde gingen – das vertrug sich nicht mit der dialektisch-materialistischen Weltanschauung. Ich hatte das große Glück, nach meiner Ausbildung zur Industriekauffrau Abitur an der Arbeiter- und Bauernfakultät (ABF) machen zu dürfen. Aber eigentlich war gefordert, dass man vor dem Abitur aus der Kirche austritt. Weil viele von uns angaben, dass die Sache mit dem Kirchenaustritt so kompliziert sei, wurde ein Jurist vorbeigeschickt, der an zwei Tagen kam und bei dem man sich für den Austritt melden konnte. Aber nur einer trat aus, das war natürlich eine große Enttäuschung. Kurz vor dem Abitur haben sie mich aber zur Rede gestellt. Eine Parteisekretärin, die für mich zuständig war – sie sollte mich vom Kirchenaustritt überzeugen – wollte mich bearbeiten, sie war Chemielehrerin und versuchte mir nachzuweisen, dass ich keine Ahnung von ihrem Fach habe. Ich war aber sehr gut in Chemie, und so kam sie mich sogar im Wohnheim besuchen, wir hatten fürchterliche Diskussionen. Am liebsten hätte ich manchmal direkt gesagt: Ich erwarte eigentlich von einer Genossin, die mit mir diskutiert, dass sie meine Meinung auch kennt und darauf regieren kann – zumindest aber, dass sie ihre eigene Ideologie beherrscht. Denn ich musste ihr manchmal ihre eigene Ideologie erklären.
Weronika: Opa, haben sie mit dir geredet?
Opa: Nein.
Oma: Aber er hat auch seine Klappe nicht so aufgerissen wie ich.
Opa: Der eine aus meiner Gruppe war ja ausgetreten. Aber für den Rest von uns kam das nicht infrage.
Oma: Die Parteisekretärin hat immer wieder versucht, mich zu überzeugen, und als sie nicht weiterkam, sagte sie: Das Abitur ist eine Reifeprüfung, und wenn sie den Weg zum dialektischen Materialismus nicht finden und aus der Kirche austreten, dann beweisen Sie, dass Sie unreif sind. Ich gebe Ihnen einen Termin, bis dahin müssen Sie aus der Kirche ausgetreten sein, sonst werden Sie nicht zu den Prüfungen zugelassen.
Opa: Das muss man sich mal vorstellen, sie war sehr gut. Überall Einsen!
Oma: Dann habe ich mir überlegt, was ich mache. Die hatten ja die Macht und konnten das wirklich durchsetzen. In dem Moment fiel mir ein: Ich habe doch noch einen Blinddarm, und der hat auch schonmal Ärger gemacht. Eigentlich hatte ich mit der OP noch bis nach den Prüfungen warten wollen, aber nun ging ich zur Klinik und ließ mir den Blinddarm in der Woche drauf entfernen. Am ersten Tag der Abiturprüfungen war ich wieder da.
Weronika: Und was passierte dann?
Oma: Ich stand leistungsmäßig sehr gut. Sie versuchten weiterhin mich zu beeinflussen, dass ich dann ohne Leistungsnachweis dastehe, aber ich habe ihnen einfach geantwortet: ich habe meinen Beruf, der Betrieb wird sich freuen, wenn ich zurückkomme. Ich schrieb alle Abiturprüfungen mit.
Opa: Alles in FDJ-Blauhemd.
Oma: Ich durfte nicht mit einer glatten Eins abschließen, da ich immer noch in der Kirche war. Mein Gruppendozent kam zu mir und fragte mich, in welchen Prüfungen ich die 1 am liebsten hätte, da er mir nur zwei geben könne. Ich glaube, ich habe mich für Mathe und Chemie entschieden. Es war also nicht alles so schwarz-weiß, auch unter den Genossen gab es anständige Leute.
Opa: Ich habe mit meiner drei die Ebene gehalten, da sind sie nie auf mich zugekommen, damit ich mal aus der Kirche austrete. Schade, dass wir uns da noch nicht näher kannten, sie hat den anderen immer geholfen, die Deutsch-Aufsätze zu schreiben, da hätte ich vielleicht auch mal eine Eins bekommen.
Oma: Die Dozenten waren aber auch angehalten, entsprechend zu reagieren, wenn da so ein Quertreiber war wie ich. Ich habe auch immer diskutiert, sie waren froh, wenn ich mal die Klappe gehalten habe, und versuchten immer mal, mich leistungsmäßig herunterzustufen. Ich erinnere mich daran, wie ich einmal mit einer schwierigen Physikhausaufgabe an der Tafel drankam und sie richtig löste. Der Lehrer kommentierte nur: Zu der Leistung sage ich 4 und möchte bitte keine Diskussion. In der nächsten und übernächsten Physikstunde saß ich da und habe nichts mitgeschrieben, sondern ihn nur mit meinem Blick fixiert. Beim dritten Mal fragte er mich: Warum schreiben Sie nicht mit? Ach, antwortete ich, wenn ich zur Leistungskontrolle drankomme, finde ich, 4 reicht immer. Da brauche ich nichts aufzuschreiben. Wenn das Maximale, was ich hier bekommen kann, eine 4 ist, brauche ich mich dafür nicht anzustrengen. Er behauptete dann, er könne sich daran nicht erinnern, und bat mich, die Aufgabe aus dem Kopf noch einmal an der Tafel zu lösen. Das tat ich. Dann war plötzlich alles richtig. Er gab mir einen Termin, an dem er mich „durch die Physik schleifen“ wollte. In seinem Büro erhielt ich Stift und Papier, und er stellte mir eine Aufgabe nach der anderen. Letztendlich konnte ich alle lösen, und er fragte mich, warum ich denn Medizin studieren wollen würde und nicht Physik. Ich antwortete ihm, dass mich die Physik wahrscheinlich genauso interessieren würde, aber wie er denn meine Chancen sehen würde, bei meinem Hintergrund tatsächlich in die Wissenschaft einzusteigen? Er gab zu, dass das schwierig sein würde. Ich bin heute noch froh, dass ich Medizin studiert habe, aber die Physik hätte mich auch interessiert.
Weronika: Aber an der ABF haben bestimmt auch Leute gespitzelt. Wusste man auch, wer das war?
Oma: Man ahnte es, aber ich hätte es nicht sagen können. Es war alles ein bisschen so programmiert, dass man die Leute, die man eigentlich nicht wollte, rausschmeißen möchte, aber einen Grund dafür finden musste. Aber wenn andere da sind, die ein bisschen zu dir halten, ist das schwierig, einen Grund zu finden!
Weronika: Und so bist du doch durchgekommen. Trotzdem ein Wunder, dass du nie verhaftet wurdest.
Oma: Ich habe einen Anruf bekommen, kurz vor der Wende: Halten Sie bitte ab sofort die Klappe, Sie sind kurz vor der Abholung.
Opa: Es war sogar schon bekannt, wohin sie gekommen wäre. Es war auch sehr gefährlich für denjenigen, der sie gewarnt hat. Es war der Oberarzt von der Poliklinik, der diese Kampagne gegen sie eingeleitet hat, um sie loszuwerden. Der hat im betrunkenen Zustand zugegeben, Offizier der Staatssicherheit zu sein.
Oma: Ich habe bis zur Facharztprüfung im Evangelischen Stift gearbeitet, dann in der Poliklinik. Dort habe ich die Rheumatologie übernommen. Der Orthopäde und ich wollten uns mal zusammensetzen, um eine Kooperation zu besprechen, wir hatten Ideen für eine neue Behandlungsmethode. Wir sind im Gebäude zum Warmbad gegangen und wollten uns das nur einmal anschauen. Der Oberarzt bekam das mit, und in der Chefsitzung zog er über mich und den Orthopäden her, was wir uns denn gedacht hätten. Ich erklärte, dass wir uns nur die Gegebenheiten angesehen hätten, weil ich dachte….da schrie er los: Hier denkt die Partei! Sie sind nicht mehr im Stift!
Hanna: Ich kann mir vorstellen, dass man da viel Kraft und innere Stärke braucht.
Oma: Ich muss ehrlich sagen, mir hat das Spaß gemacht.
Weronika: Du schreibst ja bis heute Briefe an Leute, wenn dich etwas stört.
Oma: Das ist eine richtige Wohltat, aber es war ein Glück, dass die Wende dann kam. Das wäre nicht mehr lange gutgegangen.
Weronika: Erzähl noch mal, was in deiner Akte stand. Das Problem ist ja, dass viele von deinen vernichtet wurden.
Opa: Einiges war geschwärzt, anderes vernichtet. Aber der Aufseher in der Behörde hat sich bei der Einsicht sehr über dein Lachen gewundert….
Oma: Ich habe bei meiner Akteneinsicht schallend gelacht. Ich las einen Bericht über eine Osternacht am Anfang der 1980er Jahre. Unsere Familie hat nach dem Gottesdienst die Kerzen, das Osterlicht, in Senfbechern bis nach Haus getragen. Dabei müssen uns mehrere Inoffizielle Mitarbeiter (IMs) beobachtet haben. Allein im privaten Bereich waren mehrere auf mich angesetzt und mussten regelmäßig Berichte abgeben. Die Akten aus dem dienstlichen Bereich sind leider alle vernichtet worden. Jedenfalls schrieben sie dann Berichte: „Die Familie lief mit glockenförmigen Laternen durch die Innenstadt. Es schien sich nicht um eine politische Demonstration zu handeln, weil sich keine weiteren Demonstranten anschlossen.“
Weronika: Hat es dich überrascht, die Namen zu lesen?
Oma: Nicht wirklich. Aber es war immer eine blöde Situation. Du wusstest nie: Wie weit kannst du gehen? Was kannst du wem sagen? Dieses Misstrauen, das in der Tiefe sitzt, das ist schlimm.
Hanna: Das ist dann wahrscheinlich auch schwer abzulegen, wenn man ein Leben lang davon umgeben war.
Opa: Der eine wollte die Lehrerin unseres älteren Sohns anzeigen, weil sie beim Elternabend „Mauer“ statt „antifaschistischer Schutzwall“ gesagt hatte.
Oma: Nach dem Elternabend kam er zu uns und ein paar anderen Eltern und sagte: Das müssen wir doch melden. Wir stellten uns dumm: Was hat sie gesagt? Mauer? Nein, die hat nicht Mauer gesagt. Doch, bestimmt! Quatsch, was haben Sie dann da gehört? Das sind oft so bestimmte Punkte, wo man sagt: Normalerweise muss man ehrlich sein, aber der war so verrückt, der hätte die Lehrerin wirklich gemeldet.
Weronika: Man musste immer aufpassen.
Oma: Man ging zwei Wege. Einen Weg als Staatsbürger, das darfst du, das darfst du nicht. Und einen als privater Bürger mit meiner Glaubensüberzeugung. Und das ist es, was man als Belastung empfand. Dieses Doppelte.
Hanna: Dass man auch nicht voll zu dem stehen kann, was einen selbst ausmacht.
Oma: Und eben die Kindererziehung. Dem Kind zu sagen, du hast zwar recht, aber das darfst du nicht sagen. Dieses Doppelte hat mich eigentlich immer belastet. Du darfst nicht sagen, du darfs nicht so ehrlich laut sein. Du machst es für dich, machst es für deine Kinder und versuchst, ihnen das so plausibel zu machen. Aber das war belastend.
Opa: Ja. In der Akte stand übrigens auch, dass ich orthopädische Schuhe trage. Als würde von uns keine Gefahr ausgehen, dass wir den Staat stürzen wollen oder so – etwas Interessanteres gab es da wohl nicht aufzuschreiben.
Weronika: Aber du durftest ja auch nach Westberlin fahren.
Opa: Da war ich Rentner. Ich wundere mich auch, dass sie mich haben fahren lassen, denn ich hatte angegeben, dass ich keine Westverwandten habe. Letztendlich haben sie wohl gesehen, dass wir eine funktionierende Familie haben, und daran geglaubt, dass ich zurückkomme. Auf der Rückreise wollte man mich zunächst nicht wieder in die DDR lassen: Sie wunderten sich, dass ich Rentner bin, aber ich erklärte, dass ich Invalidenrentnerstatus habe. Ich habe deinem Vater einen Walkman aus dem Westen mitgebracht, das musste man an der Grenze alles angeben.
Oma: Ich habe mir noch aufgeschrieben, wie das damals mit dem Kirchbau in unserer Stadt war. Erst erhielten wir die Genehmigung nicht, letztendlich durfte die Gemeinde das Grundstück über Umwege doch kaufen. Aber wir haben Jahre dafür gekämpft, die Erlaubnis zu bekommen, eine Kirche bauen zu dürfen.
Opa: Damals war die katholische Gemeinde ziemlich stark durch die Vertriebenen aus Tschechien und Polen.
Oma: Die haben aber auch versucht, der Kirche irgendwelche Fehlverhalten nachzuweisen. Beispielsweise wurden aus unserer Jugendgruppe die vier hübschesten Mädchen jede Woche einzeln verhört und es wurde ihnen versucht einzureden, dass der Pfarrer sie sexuell missbraucht, was aber gar nicht der Fall war. Das ist natürlich einerseits geistiger Missbrauch der Stasi, andererseits auch furchtbar, wenn solche falschen Anschuldigungen im Raum stehen und Leuten, die wirklich missbraucht werden, weniger oder gar nicht geglaubt wird.
Opa: Früher lief es in der Ökumene dort dafür besser.
Oma: Es war ein sehr gutes Verhältnis, wir Katholiken durften auch die Räume im evangelischen Pfarrhaus mitbenutzen. Aber plötzlich kündigte der evangelische Pfarrer, und wir durften nicht mehr rein. Dann stellte sich heraus – auch er war bei Guck und Horch. Das finde ich eben schlimm, dieses gegenseitige sich Belauern.
Weronika: Das stelle ich mir schlimm vor. Man weiß ja gar nicht mehr, mit wem man überhaupt noch reden kann.
Oma: Dann schwindeln sie noch ein bisschen dazu, und schon bist du in Verruf. Ich habe wirklich länger überlegt, ob ich meine Akte einsehe. Dann war mir aber schnell klar: Natürlich mache ich das, ich möchte es wissen – aber nur, wenn ich keine Wut in mir spüre. Und so weit war ich dann.
Weronika: Ich finde es schade, dass deine Dienstakten alle vernichtet wurden.
Oma: Das finde ich auch schade. In unserer Kreisstadt haben sie als erstes mit der Verbrennung angefangen, Tag und Nacht wurde geheizt. Na ja, manche haben sich bei den Berichten aber auch nicht sonderlich viel Mühe gegeben. Warum zum Beispiel stand in meiner Akte, dass mein Mann orthopädische Schuhe trägt? Wobei nie klar war, wie das Belanglose ausgelegt wird.Aber ich möchte noch von einem Schlüsselerlebnis erzählen, das mich dazu bewogen hat, unsere Kinder doch nicht von der Jugendweihe zu befreien.Als ich während meiner Studienzeit ein Praktikum in der Nervenklinik machte, kam ein Patient auf die Station, der schon als „sehr schwierig“ vorgemeldet war. Er sprach nicht. Als ich ihn sah, erkannte ich ihn als ehemaligen Lehrer von meiner Schule, der vor vielen Jahren weggegangen war. Ich sprach ihn an: Sie sind doch Herr ….., mein ehemaliger Musiklehrer aus der 4. Klasse? Er hob den Kopf: Kennen Sie mich? Sprechen ging also. Ich sagte ihm: Sie waren so ein guter Musiklehrer, wir haben immer bedauert, dass sie weggegangen sind. Er strahlte wie ein Honigkuchenpferd und begann zu erzählen: Dass er jetzt nicht mehr spricht, weil man im immerzu das Wort im Mund verdreht. Sie haben ihn so schlimm behandelt und niedergemacht, dass er kein Wort mehr sagt. Ich fragte warum? Tja, sagte er, weil es eine Jugendweihe gibt. In der Klasse, deren Klassenlehrer er war, gab es zwei Mädchen, die evangelisch waren und gesagt haben, dass sie aus Gewissensgründen nicht zur Jugendweihe gehen wollen. Es gab aber die Bestimmung, dass jene, die nicht zur Jugendweihe gehen, benachteiligt werden müssen: Keine Klassenfahrt mitmachen dürfen, von bestimmten Praktika ausgeschlossen werden. Er erzählte mir: Das habe ich aber nicht mitgemacht. Ich habe gesagt, jeder Mensch ist vor dem Gesetz gleich, solche Unterschiede akzeptiere ich nicht. Dafür wurde er psychisch von der Stasi so fertiggemacht, dass er in die Klinik kam, wo sie alles so verdrehten, dass es immer schlimmer und schlimmer wurde. Dann war er langzeitkrankgeschrieben, und wurde in seinem Zustand nicht ernstgenommen. Und plötzlich, als er mit mir redete, strahlte er wieder, weil er endlich jemandem davon erzählen konnte. Es war mein Geburtstag, eigentlich sollte ich den Nachmittag freibekommen, wollte aber nun bei seiner Begutachtung dabei sein. Doch die Stationsärztin, die sehr nett war, sprach mit dem Chef und sie versicherten mir, dass sie dem Mann helfen würden.Und das war der Grund, weshalb unsere Kinder zur Jugendweihe gingen. Ich habe das den Lehrern gesagt, ich habe es auch dem Direktor gesagt: Ich lasse unsere Kinder nur gehen, weil das passiert ist. Ich möchte nicht schuld daran sein, dass jetzt einer ihrer Lehrer auch so gequält wird.
Wir haben uns noch viel länger mit meinen Großeltern unterhalten, für diesen Beitrag soll dieser Einblick zunächst reichen. Ich habe einige dieser Geschichten schon als Kind zu hören bekommen und war immer beeindruckt davon, wie meine Oma sich nie von der Stasi einschüchtern ließ und trotzdem regelrecht stur ihren Weg verfolgte. Dass ihr nie etwas Schlimmeres widerfahren ist, muss wirklich als großes Glück bezeichnet werden. Ich hoffe, dass solche kleinen Einblicke manchen das Leben in der DDR deutlicher vor Augen führen können als das, was es letztendlich war: ein Leben in Willkür, in der man sich einrichten konnte, in der einem aber auch jederzeit jegliche Lebensgrundlage entzogen werden konnte.
In der nächsten Zeit möchten wir öfter mit Zeitzeug*innen sprechen und hier im Blog davon berichten. Seid gespannt!
Weronika
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