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Die da drüben - wie reden wir übereinander?

Kürzliche Ereignisse haben Eastplaining, Hanna und mir eine Menge an neuer Aufmerksamkeit von allen möglichen Seiten eingebracht. In die Kenntnis über diese Aufmerksamkeiten wird unsere Leserschaft zweifelsohne noch gelangen. Für mich boten diese Anfragen mal wieder die Gelegenheit zu einem tieferen Nachdenken, und diese Überlegungen möchte ich im heutigen Beitrag thematisieren, während brandenburgische Dörfer und Felder auf der Zugstrecke zwischen Erfurt und Berlin an mir vorüberziehen. Dazu drei Punkte: Was interessiert uns? Wie reden wir miteinander? Wie reden wir übereinander?


Eigentlich begegnet mir dieses Phänomen schon, seitdem wir uns mit dem Blog beschäftigen: „Aber warum sollte ICH mich mit diesem Thema beschäftigen?“ oder auch: „Das ist nicht nur im Osten so, sondern auch in [spezifisches westdeutsches Dorf]!“ Meist geäußert eben von Menschen, welche die Relevanz der Themen, mit über die wir schreiben, nicht als hoch empfinden. Sie sind genervt von dem ständigen „Sonderstatus“, den der „Osten“ in ihren Augen erhält, und von der Intensität, mit der sich nach über 30 Jahren noch damit auseinandergesetzt wird, welche Unterschiede es noch zwischen Ost und West gibt. Je länger ich mich damit beschäftige, je öfter ich in der letzten Zeit Fragen des Typs „Warum sollten wir als Westdeutsche uns mit dem Osten beschäftigen?“ gestellt bekomme, je öfter ich Menschen erlebe, die in einem Zug behaupten, es gäbe keine Unterschiede zwischen Ost und West, um im nächsten Moment wieder von „denen da drüben“ zu sprechen – umso mehr merke ich: Das Problem sitzt nicht im Osten, das Problem sitzt auch nicht im Westen, es sitzt in der gesamten Gesellschaft. Und heute möchte ich einen Versuch unternehmen, diese Missverständnisse einmal aufzuklären. Ich glaube nämlich, dass wir es mit einer fundamental menschlichen Eigenschaft und Handlungsweise zu tun haben, und zwar dem Gedanken: Was mich nicht persönlich betrifft, hat für mich keine Relevanz und ich muss mich damit nicht beschäftigen. Die Resultate dieser Haltung sehen wir jeden einzelnen Tag: in unserer unmittelbaren Umgebung und Arbeitswelt wie auch in der Politik, die im schlechten Fall nach Interessen bestimmter Bevölkerungsgruppen zulasten von Minderheiten gemacht wird. Hier geht es nicht um Ost und West per se – es geht darum, wie wir als Gesellschaft an sich miteinander umgehen. Die Frage „Warum sollte ich mich als Westdeutsche*r mit dem Osten beschäftigen?“ könnte auch lauten: „Warum sollte ich mich als weiße Person mit Rassismus befassen?“, oder: „Warum sollte ich mich als nicht körperlich eingeschränkte Person mit Barrierefreiheit auseinandersetzen?“, oder: „Warum sollte ich mich als heterosexuelle Person mit den Rechten und der Sicherheit von queeren Menschen beschäftigen?“ Ich möchte diese Aspekte hier nicht gleichsetzen, weder inhaltlich noch in ihrer Wertigkeit, keinesfalls. Es geht mir lediglich um die Grundfrage: Wie gehen wir miteinander um? Wie sprechen wir – in diesem Fall – übereinander? Ist es tatsächlich so, dass wir uns schlichtweg nur in unserem eigenen Kreis, unserer eigenen Lebenssituation bewegen (sollen)? Sicherlich ist es einfacher, sich nur um sich und „seine Leute“ zu kümmern und in politischer Hinsicht die Maximierung der eigenen Privilegien zu erstreben. Das jedoch beschreibt das Prinzip der Oligarchie. Wir aber leben in einer Demokratie! In einer pluralistischen Demokratie, in welche jede*r sich beteiligen kann und sollte und in welcher am Ende möglichst jede Bevölkerungsgruppe angemessen repräsentiert wird, damit sie bei Entscheidungen auch Berücksichtigung erfährt.

Die Frage „Warum sollte ICH mich damit beschäftigen?“ zeugt für mich von einer gewissen Naivität – einer, die davon ausgeht, dass wir noch in Zeiten leben, in denen wir nicht alle miteinander verbunden sind und in Beziehungen zueinander stehen, ob wir das nun wollen oder nicht. Als Gesellschaft in der Bundesrepublik Deutschland sollten wir doch daran interessiert sein, gut und gerne miteinander zu leben. Dafür ist es aber notwendig, dass wir uns mit den Perspektiven und Meinungen aller auseinandersetzen, die hier wohnen! Und das sind nun einmal viele unterschiedliche Gruppen. Das sollte uns doch interessieren! Nun, da es schließlich der Ostblog ist, zur Frage: „Warum sollte ich mich als Westdeutsche*r für den Osten interessieren?“ ein Antwortversuch: Weil gut 16 Millionen Menschen, etwa 20% der Gesamtbevölkerung Deutschlands, im Osten wohnen, viele weitere Millionen eine Verbindung zum Osten haben und Teil dieses Landes sind. Das sollte eigentlich Grund genug sein, um sich mit „dem Osten“ zu beschäftigen. Und, man stelle sich doch einmal die Gegenfrage vor: „Warum sollte ich mich als Ostdeutsche*r für den Westen interessieren?“ Dieser Frage würde dann – zu Recht – sofort Absurdität vorgeworfen werden, schließlich ist „der Westen“ das „Original der Bundesrepublik“ und es wird kaum jemanden im östlichen Teil des Landes geben, der noch nie im „Westen“ war – für viele besteht (beruflich) nicht einmal die Möglichkeit, ihr ganzes Leben im „Osten“ zu verbringen. Man hat die Wahl überhaupt nicht, sich mit dem Westen zu beschäftigen oder dies auch nicht zu tun. Ich verstehe, dass sich für die allermeisten „Westdeutschen“ nach der Wende schlichtweg nichts geändert hat. Ich verstehe aber nicht, dass einige daraus den Schluss gezogen haben, sich deshalb nicht mit der Thematik beschäftigen zu müssen. Wo doch der „Osten“ seit beinahe 35 Jahren Teil des gleichen Landes ist! Wo doch die Geschichte, abgesehen von 40 Jahren Teilung – über die leider in vielen westdeutschen Bundesländern viel zu wenig gelehrt wird – dieselbe ist. Das also zum ersten Punkt – Was interessiert uns? Tja, das was uns interessiert, sollte sich meines Erachtens also nicht nur darauf beschränken, was wir am eigenen Leib erfahren, sondern im Kontext des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf alle Aspekte erweitert werden, von denen unsere Mitbewohner*innen in dieser Gesellschaft betroffen sind. Und das gilt nicht nur für Ost und West, sondern für viele, viele weitere Themen – die sich übrigens gegenseitig keine Konkurrenz machen wollen. Die Tatsache, dass wir auf Ungleichheiten im Osten aufmerksam machen, soll nicht bedeuten, dass wir andere Erfahrungen in anderen Teilen des Landes diskreditieren wollen. Der Osten ist unser Fokus, aber natürlich schreiben wir immer wieder über die Stadt-Land-Thematik, natürlich gibt es auch im Westen Probleme, natürlich behaupten wir nicht, dass ALLE gesellschaftlichen Probleme ihre Ursache in diesem Bereich finden. Und ich würde mich freuen, wenn solche Thesen auch nicht über uns verbreitet werden. Zusammenfassend zu „Was interessiert uns?“ möchte ich aber noch sagen: Weg von einem exklusiven Denken, mit dem gerne begründet wird, weshalb wir uns mit bestimmten Themen – Rassismus, Behinderung, Queersein – nicht beschäftigen müssen! Hin zu mehr gesellschaftlichem Zusammenhalt und Wir-Bewusstsein!


Zum zweiten Punkt – Wie reden wir miteinander? – möchte ich an dieser Stelle nicht viel sagen, sondern auf einen vorherigen Beitrag von Hanna zu diesem Thema verweisen: Miteinander-sprechen. Ein Plädoyer zum 3. Oktober.


Nun zum dritten Punkt: Wie reden wir übereinander? Dazu fallen mir wirklich immer und immer wieder Beispiele auf, oft im Kontext von Aussagen, die beginnen mit: „Die da drüben…“, obwohl kurz zuvor noch geäußert wurde: „Diese Unterschiede gibt es doch gar nicht mehr.“ Wieder: ein gesamtgesellschaftliches, menschliches Problem. Ständig versuchen wir, uns von anderen abzugrenzen und besonders auch, andere von uns abzugrenzen. Das ist ja schon im Kindergarten der Fall und wird in der Schule nicht besser. Dem Menschen eigen ist das Schubladendenken, was uns vor tausenden von Jahren schnelle Reaktionen auf Gefahrensituationen ermöglichen sollte. Aber, liebe Leute, heutzutage kommt es doch eher selten vor, dass wir vor Raubtieren davonlaufen müssen. Ist es dann wirklich noch zeitgemäß, dieses Muster- und Schubladendenken bei uns selbst unkritisch anzunehmen und es nicht zu prüfen und zu hinterfragen?            

In konkreten Situationen erlebe ich es jedenfalls immer wieder – bezogen auf Ost/West – dass davon gesprochen wird, das sei doch nun alles lange her, diese Unterschiede seien keine Realität mehr und auf alle Fälle nicht existent. Dass eine solche Aussage schlichtweg falsch ist, belegen zahlreiche Studien, die sich allein mit der wirtschaftlichen Situation des Landes beschäftigen, aber auch die Anzahl von Vereins- und Parteimitgliedschaften, Einkommensunterschiede, Strukturen. Aber gut. Die Frage ist dann jedoch, weshalb Menschen, die solche Aussagen tätigen, dennoch immer wieder (in meiner Erfahrung!) in eine wir-die-Rhetorik verfallen? Auch wir werden ja immer wieder gefragt, warum „das“ nach all der Zeit noch eine Rolle spielt, und im nächsten Zug wird uns eine Quasi-Auslandsreportage über Görlitz vorgeschlagen. Als würde es sich nicht um das gleiche Land handeln. Als würden „Ostdeutsche“ gar nicht so richtig dazugehören. „Die da drüben“, denen lässt sich auch das Problem des Rechtsradikalismus und der AfD leicht zuschieben, obwohl 70% der AfD-Wählenden im „Westen“ wohnen. (In Thüringen leben nur 2,1 Millionen Menschen, das sind weniger als in Berlin – in NRW ganze 18 Millionen!) „Die da drüben“ sind eben ein bisschen anders, aber dann geht es ihnen doch wieder ganz gut und sie sollen sich mal nicht so viel beschweren, diese Jammerossis. Spannend, dass dann doch von „denen da drüben“ gesprochen werden muss!         

Allerdings muss ich natürlich betonen, dass „der Osten“ selbst auch in eine wir-die-Rhetorik verfallen kann: „der Westen“ trägt die Schuld an allem, „die da drüben“ haben es alle besser, „die“ sind einfach anders und nicht zuletzt – für alle Seiten – „die da oben“, ein diffuser, aber häufig verwendeter Begriff – hätten ja ohnehin alle Fäden in der Hand. Tja, wie reden wir denn nun übereinander? Ziemlich exklusiv, wie es scheint. Das ist zunächst eine wertfreie Einschätzung. Natürlich ergibt es Sinn, in bestimmten Kontexten einen „wir“-Begriff für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe zu gebrauchen. Die Frage ist aber stets, was man damit erreichen will. Trennungen und Abgrenzungen manifestieren? Auf Unterschiede aufmerksam machen, einen Schutzraum öffnen? Dies muss letztlich jede*r für sich klären. Aber ich würde unterstreichen, dass diese Klärung erfolgen muss und man sich auch immer wieder selbst hinterfragen sollte. Da nehme ich mich sicherlich ganz und gar nicht heraus.


Jedoch: Wenn Menschen mir erzählen, es gäbe keine Unterschiede zwischen Ost und West, dann aber sofort wieder von „wir“ und „die“ sprechen, halte ich das für äußerst widersprüchlich und für den gesellschaftlichen Dialog nicht förderlich, besonders, wenn es in Verbindung mit einer herablassenden Haltung geschieht. Das nur als kleiner Anstoß :)


So. Ich würde mich freuen, wenn diese Überlegungen von unserer Leserschaft weitergeführt werden. Bleiben wir miteinander im Gespräch!       


Weronika

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