Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten. Die Ostblog-Rezension.
- Weronika Vogel
- vor 4 Tagen
- 13 Min. Lesezeit
Ich habe dieses Buch im Zug gelesen, an diversen Haltestellen, auf einer Fähre und bei mir zu Hause, sowohl im „Osten“, im Ausland als auch im „Westen“, denn es begleitete mich gewissermaßen auf meinem Umzug von Erfurt nach Aachen (mit Schlenker über Dänemark). Daher hat es etwas länger gedauert – aber so konnte ich mir länger Gedanken über meine Einschätzung dazu machen. Ich finde nüchterne Rezensionen etwas langweilig, daher habe ich viele meiner Gedanken eingearbeitet, die mir beim Lesen kamen, und gehe dabei teils ziemlich über das Buch hinaus. Dennoch – viel Freude beim Lesen.
„Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten“ ist die verschriftlichte Version mehrerer Gespräche zwischen dem Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk und dem Politiker sowie ehemaligen Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Die beiden trafen sich im November 2024 und im März 2025, um über „den Osten“ zu sprechen. Dabei gingen sie auf verschiedene Themenblöcke ein, die im Nachgang ein wenig sortiert wurden. Schon das Konzept dieses Buches finde ich sehr spannend: Sich zunächst einmal stundenlang zusammensetzen, diskutieren, dabei Persönliches als solches offenzulegen und sich Zeit zu geben, in die Tiefe zu einzutauchen. Generell finde ich es bezeichnend, dass es dieses Buch in dieser Form gibt. Auch nach all den bisher existierenden Büchern und der gerade in den letzten Jahren gesamtdeutsch zunehmenden Diskussion (wenngleich das Thema, wie viele nicht-im-Osten-sozialisierte gerne behaupten, nicht „lange Jahre vom Tisch war“, sondern in ihrer Wahrnehmung einfach nicht stattfand) ist offensichtlich noch längst nicht alles erzählt. Der Redebedarf ist gerade auf Seiten der Ostdeutschen weiterhin sehr hoch.
Das Buch beginnt mit einer Vorstellung der beiden Gesprächspartner. Ein, wie ich finde, sehr passender Anfang, gerade bei einem so doch nicht einfachen Thema: seine Prägungen klar zu benennen, ist schon einmal ein guter Einstieg. Hier wird nicht getan, als blicke man von „außen“ auf das Geschehen. Beide Autoren sprechen über ihre eigene Lebenszeit, als Politiker und Historiker, die, ihren Aufgaben entsprechend, objektiv über die Geschehnisse urteilen sollen, aber gleichzeitig subjektiv davon berührt werden. Hier nicht wie andere sich mit dem Thema Osten befassende Personen zu behaupten, man stünde über jeglichen Einflüssen und hätte hier „die“ Wahrheit, halte ich für ausgesprochen klug. In neun Kapiteln geht es dann um unterschiedliche Themengebiete, die aber alle miteinander verwoben sind. Das erste Kapitel dreht sich um, wie könnte es auch anders sein, Versäumnisse und Fehler im Vereinigungsprozess. Die beiden konstatieren, dass es zu schnell ging und viel vergessen und falsch gemacht wurde, bemerken aber auch, dass aus damaliger Sicht vieles nicht anders hätte gemacht werden können. Erst aus heutiger Sicht offenbaren sich, wie dies so oft in der Geschichte der Fall ist, die Fehler der Vergangenheit. Kowalczuk und Ramelow nennen Vieles, was dazu gehört, allem voran – und hier liegt vielleicht der Kern des Problems – fehlendes Verständnis und fehlende Verständigung. Ramelow: „Im Westen gab es für dieses Problem keinerlei Sensibilität. Es gab nur die Erzählung von den maroden Betrieben und den faulen Ossis. Festgemacht an Produktivzahlen, ohne zu berücksichtigen, dass alle Aufgaben, die in Westdeutschland staatlich geregelt waren, im Osten von den Betrieben wahrgenommen wurden.“ Dazu zählten nicht nur Kindergärten, sondern auch Kultur- und Sporteinrichtungen, Urlaubsbetreuung, Rentnerbetreuung, das Gesundheitswesen und nicht zuletzt ein Sonderauftrag für die Konsumgüterindustrie. Bei der Wiedervereinigung prallten zwei völlig unterschiedliche Systeme aufeinander, und dann sollte sich das eine dem anderen angleichen, ohne dass die verschiedenen Strukturen berücksichtigt wurden. Kowalczuk: „Rund 80 Prozent im Osten haben es [so] gewollt: Sie wollten so schnell wie möglich die D-Mark. Wahrscheinlich haben sich die meisten vorgestellt, sie bekommen die D-Mark, und alles andere bleibt irgendwie beim Alten.“ Viele Zerwürfnisse heute resultieren laut der Autoren auch aus diesem Vereinigungsprozess, und dennoch bleibt die Frage: Was wäre die Alternative zur Einheit gewesen? Wie hätte man damals anders handeln können? In diesem Buch wird nicht geranted, wie die Jugend sagen würde, jedenfalls nicht nur. Aber Fakt ist: Es tauchen immer wieder, nicht nur hier, die gleichen Themen auf, was mir zeigt, dass es noch nicht vorbei sein kann, dass weiterhin darüber gesprochen werden muss, was und wie es passiert ist. Ich möchte hier natürlich nicht die ganze Diskussion aufrollen – die Leser*innen dieses Blogs können sich das Buch ja selbst zu Gemüte führen – nur einige Anregungen geben. Was für mich besonders aus diesem ersten Kapitel herausgestochen ist, ist diese Anwendung des bundesdeutschen Systems auf das ehemalige DDR-System, aus dem sich meiner Meinung nach die meisten Probleme ergeben haben. Ramelow: „Da waren Passangelegenheiten, Sozialversicherungen, Hausratsversicherungen, Lebensversicherungen zu regeln – eben der ganze Papierkram, der von heute auf morgen auf West umgestellt werden musste, Ein Volk wandert neu ein, ohne räumlich auszuwandern.“ Ich frage mich, in welcher Form das auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen werden könnte. Heutzutage wird des Öfteren die geringere Vereins- und Parteibindung im „Osten“ bemängelt, aber oft übersehen, dass Engagement dort außerhalb dieser formalisierten Rahmenbedingungen stattfindet, und das seit langer Zeit. Braucht es wirklich für alles diese organisierten Systeme, damit es „zählt“? Beispiel: Die katholischen Theologinnen, die zur DDR-Zeit in Erfurt studiert haben, treffen sich bis heute jährlich und besprechen gemeinsam gesellschaftliche und theologische Themen. Junge Menschen in einer ostdeutschen Kleinstadt organisieren regelmäßig Müllsammelaktionen. Eine Hausgemeinschaft beschließt, sich um die alleinstehenden Senioren im Stadtgebiet zu kümmern. Ein Verein, ein offizieller Name, LinkedIn-Postings? Fehlanzeige. Aber ist es deshalb weniger bedeutend? Und ist es der richtige Weg, sich als engagierte Person diesem Schema anzupassen, um doch endlich „gesehen“ zu werden und mehr „Reichweite“ zu bekommen? Von wem eigentlich und wofür? Vielleicht ein Thema für einen eigenen Beitrag.
Das zweite Kapitel befasst sich mit Befindlichkeiten Ost – West. Wieder war ich nicht überrascht, dass dies direkt an zweiter Stelle zur Sprache kam. Ich habe das Gefühl, dass bei solchen Gesprächen notgedrungen erst einmal über Fehler im Vereinigungsprozess und dann über Befindlichkeiten gesprochen werden MUSS, um anschließend tiefer in die Materie vordringen und fragen zu können: Woher kommt das eigentlich? Kowalczuk und Ramelow nennen viele Beispiele, und ich frage mich, ob „Befindlichkeiten“ hier überhaupt das treffende Wort ist. Kowalczuk: „Ich glaube, ‚ostdeutsch‘ ist ein Erfahrungsraum, den man nicht nach Belieben betreten und verlassen kann. Es gab Prägungen vor 1989, die waren für alle, egal wie einer zum System stand, gleich: Schule, Arbeit, Medien, Kultur, ideologische Dauerbeschallung und so weiter.“ Und daraus ergibt sich für mich auch die Begründung dafür, warum Teile der 40jährigen Trennung auch in meiner Generation noch sichtbar sind, egal, wie häufig uns das abgesprochen wird: Wir wurden von Menschen – Eltern, Großeltern, Lehrkräften – großgezogen, die in dieser Diktatur aufgewachsen sind. Natürlich haben sie uns teilweise anders erzogen, als das ihre Gleichaltrigen anderswo, in diesem Fall im „Westen“ getan haben. Ich denke, dass sich das in der nächsten Generation stärker „herauswachsen“ wird, ich denke nicht, dass die vorherrschenden Prägungen, mit denen meine Generation ihre Kinder erziehen wird, aus der DDR-Zeit stammen werden. Aber in meiner Generation war das noch stärker der Fall. (Ich merke es auch an so banalen Sachen wie Erinnerungen aus meiner Grundschulzeit 2007-2011, wo Milchdienst, Kleine weiße Friedenstaube, Sport frei und eine mit innerdeutscher Grenze verzierte Karte im Sachkundeunterricht noch zum Programm gehörten. Mittlerweile ist das sicher anders. Bis auf die Karte und Sport frei fand ich das aber auch gar nicht schlimm.) Kowalczuk spricht auch etwas an, das mich sehr berührt hat: Den Geschichtsunterricht im Osten. Ich hatte das große Glück, besonders in der Oberstufe eine sehr kompetente Geschichtslehrerin im Leistungskurs zu haben, die uns sehr viel beigebracht und mein Interesse gefördert hat. Aber mir war nicht einmal bewusst, dass bis in die frühen 2000er in vielen Teilen des Ostens Geschichtsunterricht nicht über 1945, teils nicht über 1933 (!) hinaus stattfand. Das ist natürlich eine Katastrophe. Und selbst zu meiner Schulzeit war es natürlich der Fall, dass die Lehrkräfte, die uns unterrichteten, selbst „dabei gewesen“ waren ab den 1950er Jahren. Das muss nicht immer schlecht sein, macht eine Objektivität aber manchmal auch schwieriger. Kowalczuk konstatiert insgesamt: „Die fehlende Aufarbeitung der Vergangenheit in Ostdeutschland ist ein Massenphänomen. Es wird nicht darüber geredet. Die wichtigste politische und historische Sozialisationsinstanz für Heranwachsende ist der Abendbrottisch. Dort werden viele Dinge weitergegeben, auch erlernte Narrative und Ideologie, die aus der kommunistischen Zeit herrühren.“ Und hier ist besonders das Problem, dass über manches geredet, über das allermeiste aber geschwiegen wird. Nicht zu vernachlässigen ist hier laut Kowalczuk: „Die Arbeitslosigkeit bedeutete einen kulturellen Bruch, einen Mentalitätsbruch, den sich viele nicht vorstellen können. Die davon massenhaft betroffene Eltern- und Großelterngeneration der Neunzigerjahre stand gar nicht für Gespräche zur Verfügung.“ Ramelow und Kowalczuk sprechen auch über die „Ostalgiewelle“ und kommen zu dem Schluss, dass eine gewisse Nostalgie rückblickend normal sei, aber eine große Gefahr von der Tendenz ausgehe, die DDR nun in diesem Kontext zu verharmlosen. Dass manche Historiker die Eingabepraxis (jede*r DDR-Bürger*in hatte das Recht, eine Eingabe an das Zentralkomitee der DDR zu schreiben – teils wurden solche „Einzelfälle“ dann gelöst, aber eben nur als Einzelfälle, Beispiel: Gottesdienstausgang in der Armee) als Elemente direkter Demokratie interpretieren, hat mich zutiefst überrascht, weil es wirklich komplett absurd ist. Solche Eingaben können gar nicht mit Petitionen oder ähnlichem verglichen werden, weil sie stets Einzelfallcharakter hatten. Darauf stützte sich die DDR-Regierung, dass beispielsweise im Armee-und-Kirche-Kontext (ich habe mich nun ein halbes Jahr für meine Masterarbeit damit befasst, daher die andauernden Vergleiche) jeder Fall als Einzelfall behandelt wurde und nicht als generelles Zugeständnis mit einer gewissen Verbindlichkeit zu werten sei.
Auf alle Fälle sehen Kowalczuk und Ramelow eine Gefahr in diesem verdrehten Geschichtsbewusstsein – wie auch im dritten Kapitel deutlich wird, das sich dem Antifaschismus und Antiamerikanismus widmet. Hier gehen sie darauf ein, dass die Shoa im Geschichtsunterricht der DDR – der hauptsächlich auf Geschichte der Klassenkämpfe und der Partei einging – kaum thematisiert wurde. Interessant ist, dass Kowalczuk beschreibt, im Osten gäbe es nicht wie medial oft dargestellt die großen Russland-Versteher: „Die angebliche Expertise beruht auf Narrativen der Ablehnung des Westens.“ Der Antiamerikanismus sitze sehr tief. Bezeichnend fand ich in diesem Kapitel zudem den Konsens der Autoren, dass es in Deutschland eine große Zahl an besonders jüngeren Menschen gebe, die unsere politische Ordnung nicht für verteidigungswürdig erachten, Verteidigung wäre ja nicht nur eine Sache von Panzern, sondern würde im Kopf anfangen. Ich halte das Thema generell für schwierig, ebenso wie die aktuellen Diskussionen zur Wiedereinsetzung der Wehrpflicht. Ich persönlich würde ja, sicherlich bedingt durch meine Prägungen – auch jene, die mir meine Eltern als Christ*innen und Überlebende sehr militarisiert strukturierter Diktatur-Gesellschaften – mitgegeben haben, jeden Dienst an der Waffe verweigern. Von zivilem Widerstand spreche ich hier aber nicht: da wäre ich sofort dabei. Ich frage mich aber, warum es so ist, dass viele Menschen unsere Ordnung oder Gesellschaft nicht als verteidigungswürdig sehen, wahrscheinlich landen wir da wieder beim Kernproblem des Geschichtsunterrichts. Bildung, Bildung, Bildung. Anders wird es nichts. Aber durch Bildung kann natürlich auch Indoktrination geschehen, wie im von Kowalczuk angeführten Beispiel zu Geschichtsbüchern, die seit zwei Jahren in Russland eingesetzt werden: „Da gibt es eine Karte von Deutschland, und auf der ist eine Grenze eingezeichnet. Auf der einen Seite steht BRD, auf der anderen Seite DDR – und darunter steht ‚zeitweilig von der BRD okkupiert‘“.
Kapitel 4: Der schwierige Umgang mit „den Anderen“. Es beginnt damit, dass Kowalczuk beschreibt, wie die bisherigen Biografie-Erzählungen oft „Einbahnstraßen“ waren – immer sollten Ostdeutsche erzählen, Westdeutsche erzählten selten. Zugegeben, ein ähnlicher Gedanke kam mir im Rahmen des Begegnungsprojekts Görlitz-Aachen im Juni. Ich merkte jedoch, dass das Bedürfnis der Görlitzer, endlich gehört zu werden, so groß war und sich so viel angestaut hatte, dass es hier gar keine andere Möglichkeit geben konnte als damit zu beginnen. Ich hoffe sehr, dass das Projekt weitergeht und auch „umgekehrt“ erzählt wird. Denn es ist sicherlich ein Fehler, zu glauben, dass „wir“ erzählen „müssen“, weil „die“ ja nichts von „uns“ wissen, „wir“ aber – aus den Medien oder von sonst wo her – schon alles über „die“ wissen. Zu wissen glauben! Es wird Zeit, sich endlich auf Augenhöhe zu begegnen und nicht ständig so zu tun, als wüssten wir schon alles über unsere*n Gesprächspartner*in, bloß, weil wir wissen, woher er*sie kommt. Interessant ist der Bogen, der hier im Buch zu der „Unzufriedenheit“ geschlagen wird: „Mir persönlich geht es gut, aber insgesamt geht es uns heute schlechter“. Damit ist der eklatante Unterschied zwischen persönlichem Zufriedenheitsgefühl und den Wahlergebnissen gemeint. Die Frage ist ja immer, mit wem man sich vergleicht. Und auf welche Fakten man zurückgreift. (Tipp: Telegram ist keine gute Quelle.) Ich bin Ramelow sehr dankbar für einige interessante Thüringen-Fakten, die ich jetzt in NRW gut gebrauchen kann, beispielsweise, dass Apolda den größten Pizzaofen Europas hat und jede zweite Glasflasche Deutschlands aus Thüringen kommt. Dieses Ungleichgewicht zwischen „alles ist schlechter geworden und daran sind die Ausländer schuld“ bei einem Sterbeüberschuss seit 1972 (Gesamtgebiet der BRD) und hochlaufender Produktion lassen mich immer wieder verständnislos den Kopf schütteln. Ich bin froh, dass Ramelow und Kowalczuk auch den Rassismus angesprochen haben und betonen, dass dies nicht allein ein Problem der AfD ist, sondern dass Rassismus in weiten Bevölkerungsteilen verbreitet ist und seine Ursprünge auch nicht zuletzt aus dem Totschweigen dieses durch die SED hat.
Kapitel 5: Frieden und Friedenssehnsucht. Hier gehen die Autoren neben der AfD besonders aufs BSW ein, eine folgerichtige Entscheidung, wo sich diese Partei den „Frieden“ doch auf die Fahnen geschrieben hat. Schon lange frage ich mich: zu welchem Preis? Ebenso Ramelow: „Ein überfallener Staat muss die Möglichkeit haben, sich zu verteidigen“. Mir kommt bei all diesen lasst-doch-mit-Russland-verhandeln-Ideen immer Churchill in den Kopf: „Man kann mit einem Tiger nicht verhandeln, wenn man den Kopf in seinem Maul hat.“ Und er behielt Recht. Ramelow geht hier stärker auf Europa an sich ein und betont etwas, das viele öfter vergessen, nämlich, dass Europa über Westeuropa hinausgeht und Osteuropa ebenso einbezogen werden muss in eine Idee der europäischen Verteidigungspolitik (und nicht nur). Hier kommt Kowalczuk auch wieder auf die hochmilitarisierte Gesellschaft der DDR zu sprechen, die von meinen Eltern abgelehnt wurde und meines Erachtens ein Grund für meine intrinsische Ablehnung alles Militärischen ist. Ramelow: „Der – aus meiner Sicht falsch verstandene – Antimilitarismus ist im Prinzip einfach nur das Ausblenden von allem, was furchtbar ist auf der Welt.“ Ich weiß nicht. Ich gehe vollkommen mit dabei, dass ein angegriffenes Land sich – auch mit militärischen Mitteln – verteidigen können muss. Aber ich würde nicht sagen, dass dieser Antimilitarismus notwendigerweise ein Ausblenden ist von allem, was furchtbar ist auf dieser Welt – ich denke nämlich nicht, dass wir, die wir so denken, es ausblenden. Gerade weil ich es einblende, weiß ich nämlich, worin Kriege letztendlich resultieren können und was ziviler Widerstand bewirken kann. Aber es ist schwierig, und ich bin froh darüber, dass ich aktuell (noch!) nicht in der Situation bin, mich persönlich damit auseinandersetzen zu müssen. Zu dem von Ramelow geforderten sozialen Pflichtjahr kann ich nur die Frage stellen, wie das praktisch umgesetzt werden sollte – die Strukturen dafür sind nämlich absolut nicht vorhanden und, wie Kowalczuk, lasse ich mir nicht gerne etwas befehlen. Vielmehr sollten wir uns vielleicht fragen, warum die Anreize für junge Menschen, sich beispielsweise nach der Schule für ein Jahr sozial zu engagieren, bisher zu niedrig sind, als eine ganze Generation als Lückenbüßer für den Fachkräftemangel zu verwenden.
Im sechsten Kapitel sprechen Kowalczuk und Ramelow über frühes politisches Engagement. Sie berichten ehrlich und aufrichtig über ihren Werdegang, im siebten geht es dann um die Notwendigkeit einer Verfassungsdebatte. Hier wird wieder deutlich, dass mehr politische Bildung notwendig ist. Ich war ja wirklich genervt davon, wie beispielsweise die AfD Landtagswahlkampf mit bundespolitischen Themen gemacht hat. Aber dass so viele Leute darauf reinfallen, liegt, wie die Autoren konstatieren, letztlich auch daran, dass viele keine Ahnung haben, welche Zuständigkeiten in der Jurisdiktion der Landtage, der Kreistage und des Bundestages oder gar des EU-Parlaments liegen. Sie sprechen außerdem über die Frage einer neuen Verfassung, die 1990 so geklärt wurde, dass die DDR der BRD über Artikel 23 des Grundgesetzes beitrat. Eine einfachere Lösung. Und in all den Jahren danach gab es irgendwie nie die Zeit und die Ruhe, eine neue Verfassung zu erarbeiten – aber laut Ramelow und Kowalczuk wäre das aus mehreren Gründen wichtig, diesen Prozess anzustoßen. In diesem Kontext kommen sie auch auf Nationalstolz zu sprechen – nicht zu verwechseln mit einem Zugehörigkeitsgefühl – und Kowalczuk spricht mir aus der Seele, wenn er sagt: „Ich bin auch nicht stolz darauf, Deutscher zu sein – ich kann nicht auf etwas stolz sein, wofür ich nun wirklich nichts kann. Und ich bin auch nicht stolz auf Deutschland, auf unser Land. […] Ich kann auch ein Land oder gar einen Staat nicht lieben. Das ist alles abstrakter Quatsch, den viele Menschen so fühlen mögen, verstehen kann ich das aber nicht.“ Gerade durch meine zwei Staatsbürgerschaften, deren Länder SEHR unterschiedlich mit dem Thema Nationalstolz umgehen, verstehe ich das sehr gut. Zugehörigkeit ist für mich etwas anderes als Stolz, der im Kontext von Nationen vollkommen fehlplatziert ist. Interessant fand ich auch die Kinderhymne Brechts, die ich bisher nicht kannte, als Idee für eine neue Landeshymne. Der Text gefällt mir auf alle Fälle besser…
Kapitel 8 befasst sich mit dem Traum von einer gerechten Gesellschaft. Zwischen KI und Vermögen geht es auch hier wieder um Bildung, einem Punkt, der in den letzten Jahren in Deutschland leider etwas in Schieflage geraten ist. Kowalczuk: „Wer nicht in Bildung investiert, ohne nach direkten Gewinnen zu fragen, verbaut die Zukunft der eigenen Gesellschaft. Tatsächlich ist jeder investierte Euro im Bildungsbereich eine Zukunftsressource, materiell wie immateriell.“ Gerade in diesem Bereich muss ein Umdenken geschehen, finde ich. Es hat mich wie viele hart getroffen, als innerhalb kürzester Zeit 100 Milliarden für die Bundeswehr locker gemacht wurden, ohne gleichzeitig an die Bildung zu denken. Zudem befassen sich die Autoren mit Fragen eines tatsächlichen Sozialstaats, dem Umgang mit den schwächsten in der Gesellschaft, besonders einer Kindergrundsicherung und einem sinnvollen Umgang mit Arbeitslosen (unter denen es übrigens deutlich weniger Totalverweigerer gibt als oft behauptet) sowie besonders einem humaneren oder überhaupt erst humanen bürokratischen Prozess im Bereich der Pflege und Behinderungen (warum z.B. müssen Eltern eines behinderten Kindes regelmäßig nachweisen, dass es immer noch behindert ist?). Diese Tendenzen können dazu führen, dass, wie im Osten – 40% der Menschen der Aussage zustimmen würden, dass es lebensunwertes Leben gibt (gesamtdeutsch ist es ebenso ein Problem). Wie kann denn so etwas sein? Kowalczuk: „Das Prinzip, das auch die Höckes und Wagenknechts fahren, lautet, das Unsagbare sagbar zu machen.“ Es ist wirklich beängstigend. Die Frage besteht hier auch, welche Bevölkerungsgruppen in der Politik überhaupt repräsentiert werden – und deutlich wird, dass gerade die Schwächsten kaum Repräsentanz erfahren und dass der Bundestag von Akademiker*innen überlaufen ist.
Das Buch schließt mit dem neunten Kapitel: Ostdeutschland als Frühwarnsystem? Dieses Gespräch fand nach der Bundestagswahl 2025 statt, und Ramelow und Kowalczuk gehen darauf ein, dass die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen im Osten sich schneller vollziehen als anderswo. Dies könnte sicherlich als Frühwarnsystem genutzt werden – aber das muss auch geschehen. Die mediale Darstellung der Verhältnisse wird hier ebenfalls als Problem benannt. Ich bin, wie die Autoren, auch sehr gespannt darauf, wie die Kommunalwahlen in NRW – die am heutigen Tag, dem 14. September – stattfinden, ausgehen (ich selbst darf nicht mitwählen, weil ich erst seit zwei Wochen hier wohne, leider, denn ich gehe sehr gerne wählen). Das „Problem“ lässt sich schließlich nicht auf den Osten reduzieren. Aber ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, den Ramelow hier betont und der mir besonders in Bezug auf Kommunalpolitik Magenschmerzen bereitet: die Tendenz, mehr nach Fraktionszugehörigkeit abzustimmen und zu reden als danach, was für die Kommune am besten wäre (oder auch das Land bzw. den Bund). Ramelow: „Lasst uns nicht immer nur nein sagen, nur weil es von denen kommt. Lasst uns erstmal darüber nachdenken, was nützt dem Land?“ Eine schwierige Angelegenheit, wie so oft, aber letztendlich ist eigentlich das der Auftrag der Demokratie. Das Buch schließt mit einem Satz Kowalczuks, dem ich nur zustimmen kann: „Was mich an historischen Prozessen fasziniert, ist die Tatsache, dass es nie so linear verläuft, wie es dargestellt wird. Geschichte verläuft nie so wie wir sie uns wünschen.“ Und doch – am Ende müssen wir alles dafür tun, dass es den Menschen gut geht. Banal, aber wahr.
„Die neue Mauer. Ein Gespräch über den Osten“ lässt sich, auch aufgrund des Dialogcharakters, schnell lesen (wenn man nicht gerade im Umzugschaos versinkt wie ich) und zeigt für mich gut den Stand der Debatte auf. Von erst aus dem Weg zu räumenden – hier: auszusprechenden – „Befindlichkeiten“, wenn man diese denn so nennen will, bis zu Diskussionen über die aktuelle Verteidigungspolitik und den Sozialstaat zeigt dieses Buch, wie tief ein Gespräch über „den Osten“ sein kann, ohne immer wieder die gleichen Klischees zu bedienen und sich in Schuldzuweisungen zu verlieren. Es nimmt, im Gegensatz zu anderen Werken, nicht nur die Vergangenheit, sondern auch die Zukunft in den Blick. Beim Lesen habe ich immer wieder pausiert und die Worte mit meiner eigenen Biografie und Realität in Verbindung gebracht. Mit vielem stimmte ich überein, mit einigem nicht, letztlich bleibt für mich immer die Frage, wie es nun in der deutschen Diskussion weitergeht. Zwischen Vergangenheitsaufarbeitung, der Akzeptanz, das Geschehene nicht mehr ändern zu können und dem Versuch, das Beste daraus zu machen, bewegt sich „Die neue Mauer“ – und ich bin gespannt darauf, was das Buch anstoßen wird.
Weronika
Der Verlag C. H. Beck hat uns ein Rezensionsexemplar zur Verfügung gestellt, was meine Meinung aber keineswegs beeinflusst, da ich mir das Buch ansonsten ebenso kostenfrei aus der Stadtbibliothek ausgeliehen hätte.
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