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Machtlos gegen Rechtsextremismus? Der Osten und die Presse


Alle Grafiken, Zahlen und Daten stammen aus der erweiterten Fassung des Dossiers „Es ist kompliziert … Der Osten in den Medien. Datenerhebung zur Presseberichterstattung über Ostdeutschland von der Wiedervereinigung bis heute.“ von Martin Kopplin und Olaf Jacobs, veröffentlicht 2025. Das Dossier ist online frei verfügbar.

 

Zu ungefähr demselben Zeitpunkt, als Weronika und ich uns einigermaßen fassungslos mit der Social-Media-Präsentation unseres SPIEGEL-Portraits konfrontiert sahen, veröffentlichte die Tagesschau einen Artikel über eine Datenauswertung an der Universität Leipzig. Titel des Artikels: „Wie über Ostdeutschland berichtet wird“. Wir gehen nicht davon aus, dass es unser Portraitvideo war, das die Tagesschau-Redaktion dazu veranlasste, diesen schon etwas länger existierenden Bericht aus Leipzig zu thematisieren. Falls es da doch eine*n Redakteur*in gibt, der oder die sich dachte, dass genau dieses Video einen guten Grund für das Wiederaufgreifen der Ostdeutschland-Berichterstattungs-Debatte darstellt, dann – ja, damit hätte die betreffende Person wohl Recht. Weil wir die Datenanalyse, die im Zusammenhang mit zwei Dokus der ARD-Gruppe entstand, hier auf dem Blog noch nicht thematisiert haben, soll es jetzt eine kleine Zusammenfassung der beträchtlichen 70 Seiten geben. Einen passenderen Moment kann es dafür wohl auch nicht geben.

 

Kontext

Ganz zu Anfang – Transparenz und so – ist es wichtig, Folgendes zu erwähnen: Die hier ausgewertete Datenanalyse ist keine wissenschaftliche Studie. Ich werde den Begriff „Studie“ der Einfachheit halber verwenden und die Analyse wurde auch maßgeblich von Mitarbeitenden und Studierenden der Universität Leipzig durchgeführt. Allerdings entstand sie in erster Linie als Beiprodukt zu der MDR-Dokumentation „Es ist kompliziert … Der Osten und die Medien“ und den damit verbundenen anderen ARD-Produkten. Die Methodik der Analyse erschien mir als Kommunikationswissenschafts-Studentin durchaus sinnvoll und gut nachvollziehbar, weswegen ich die Ergebnisse für tragbar halte.

In die Studie wurden knapp 321 Millionen Zeitungsartikel aus den Jahren 1990 bis heute einbezogen. Erster Schritt der Analyse war es, herauszufinden, wie oft die verschiedenen Formen des Begriffs „ostdeutsch“ verwendet wurden – und in welchen Zeiträumen „ostdeutsch“ in den Medien besonders präsent war. Zudem wurde ausgewertet, welche Begriffe in diesen Artikeln über- oder unterrepräsentiert waren, also welche Begriffe gehäuft in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug vorkamen. Die Autoren der Studie schauten sich ebenfalls an, ob eher positive oder negative Begriffe in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug verwendet wurden.


Zentrale Punkte

  • Während der letzten 30 Jahre wurde über Ostdeutschland vor dem Tag der deutschen Einheit im Durchschnitt 50 Prozent mehr berichtet als während des gesamten restlichen Jahres. Nach dem Tag der deutschen Einheit nimmt das Berichterstattungsvolumen schnell wieder ab.

  • Im Zusammenhang mit Wahlen wird erst nach der Wahl überdurchschnittlich viel über den Osten berichtet, während der Osten vor den Wahlen tendenziell eher weniger thematisiert wird.

  • Vor Landtagswahlen in Sachsen oder Brandenburg wird Ostdeutschland überdurchschnittlich stark in den Zeitungen thematisiert, vor Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt nicht.

  • Innerhalb der letzten zwanzig Jahre ist die Anzahl der Wörter, die in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug überdurchschnittlich viel verwendet werden, gestiegen. Die überrepräsentierten Begriffe sind außerdem immer stärker überrepräsentiert, das heißt, sie werden immer eindeutiger in Ostdeutschland-Kontexten verwendet.

  • Am stärksten überrepräsentiert in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug sind Wörter, die rechte Ideologie thematisieren.

  • Die Adjektive, die in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug verwendet werden, sind hauptsächlich negativ.


Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025

Umfang der Berichterstattung:


Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025

Wie in der Grafik bereits zu erkennen ist, wird vor allem rund um den Tag der deutschen Einheit im Oktober überdurchschnittlich stark über Ostdeutschland berichtet. Der Bezug auf diesen konkreten Anlass verstärkt sich über die letzten Jahre sogar. Auch Ende August ist der Umfang der Berichterstattung erhöht, wofür die Autoren der Studie das Nachrichtenloch während der Sommerpause des Bundestags verantwortlich machen. Nach den beiden Bundestagswahlen 2017 und 2021 wurde doppelt so viel über Ostdeutschland berichtet wie im Jahresdurchschnitt, während der Osten vor Wahlen eher selten eine Rolle spielt. Die Autoren resümieren dazu: „Die ostdeutschen Wahlergebnisse scheinen also eher Gegenstand der Berichterstattung zu werden als Perspektiven aus Ostdeutschland im Vorfeld der Wahlen“. Dies bestätigte sich bei der Bundestagswahl 2025. Im Kontext ostdeutscher Landtagswahlen korrelieren vor allem Landtagwahlen in Sachsen mit deutlich erhöhter Berichterstattung sowohl vor als auch nach der Wahl. Für andere ostdeutsche Bundesländer bestätigen sich diese Daten nicht.


Überrepräsentierte Begriffe in den 1990ern:

In diesem Zeitraum sind vor allem Begriffe mit Bezug auf wirtschaftliche Themen stark überrepräsentiert. Generell sind Wörter zu diesem Zeitpunkt aber noch weniger stark überrepräsentiert, das heißt, die Unterschiede zwischen der verwendeten Sprache in Ostdeutschland-Artikeln und der Sprache in Artikeln ohne Ostdeutschland-Bezug sind im Vergleich zu späteren Jahren noch nicht so ausgeprägt. 17 von 30 überrepräsentierten Begriffen sind negativ, im Vergleich zu später der geringste Anteil an negativen Begriffen. Von 30 überrepräsentierten Adjektiven sind 4 positiv, einer davon („heiter“) bezieht sich sehr wahrscheinlich auf den Wetterbericht. Die Autoren bemerken außerdem, dass trotz der „Baseballschlägerjahre“ und der „enthemmte[n] rechte[n] Gewalt“ im Ostdeutschland der 1990er im Vergleich zu später nur wenige Wörter in diesem Kontext mit Ostdeutschland assoziiert werden. Begriffe, die im Vergleich mit der Gesamtberichterstattung stark unterrepräsentiert sind, sind eine Reihe an positiven Adjektiven (e.g. „vielseitig“ und „ehrenamtlich“), aber auch „Konzert“ und „Presse“. Die Autoren beobachten hier, dass die systematische Übernahme ostdeutscher Presseorganisationen durch westdeutsche Konzerne in dieser Zeit eigentlich eher eine verstärkte Thematisierung in den überregionalen Zeitungen nahegelegt hätte. Dies scheint allerdings tatsächlich ein Thema zu sein, welches keine Aufmerksamkeit erhielt.


Überrepräsentierte Begriffe in den 2000ern:

In der Berichterstattung der 2000er Jahre ist der Begriff Hartz IV in Ostdeutschland-bezogenen Artikeln stark überrepräsentiert, obwohl, wie die Autoren feststellen, „die Einführung die Lebensrealität auch vieler Menschen in Westdeutschland verändert“. Zudem ist neben der PDS/Linken jetzt auch der Parteiname NPD eher in der Ostdeutschland-Berichterstattung präsent. Auch weitere Begriffe, die mit rechter Ideologie im Zusammenhang stehen (e.g. „Lügenpresse“) werden in der Presse jetzt immer stärker mit Ostdeutschland assoziiert. Zudem sind die Wörter „Fortzüge“, „Abwanderung“ und „Schrumpfung“ stärker überrepräsentiert als noch im letzten Jahrzehnt. Als positiv zu wertende, überrepräsentierte Adjektive nennen die Autoren nur noch „heiter“, „antifaschistisch“ und „leistungsbereit“, wobei „antifaschistisch“ auch zur Beschreibung politischer Akteure und Ideologien genutzt wird.


Überrepräsentierte Begriffe in den 2010ern:

Im Kontext von PEGIDA ist der Begriff „Grenzöffnung“ in diesen Jahren in der Ostdeutschland-Berichterstattung stark überrepräsentiert. Zudem wird der Begriff AfD bedeutend häufiger in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug verwendet – obwohl die Partei eine westdeutsche Gründung ist, die Mehrzahl ihrer Stimmen aus dem Westen erhält und erst bei der Bundestagswahl 2017 erste ostdeutschlandweite Wahlerfolge einfährt, die sie von Westdeutschland unterscheidet. In den 2010ern haben 14 der 30 am stärksten überrepräsentierten Begriffe einen thematischen Bezug zu rechter Ideologie. Zudem werden Begriffe wie „marginalisiert“, „unterrepräsentiert“ und „abgehängt“ präsenter. Von den 30 Adjektiven, die in Ostdeutschland-Artikeln am wenigsten verwendet werden, sind 15 eher positiv und 6 eher negativ.


Überrepräsentierte Begriffe in den 2020ern:

Seit Anfang 2020 haben Begriffe, die mit rechter Ideologie assoziiert sind, weiter an Dominanz in der Ostdeutschland-Berichterstattung vorkommen. Zudem werden mehr Parteien als Ost-Parteien gehandelt, indem sie vor allem in Artikeln mit Ostdeutschland-Bezug genannt werden. Generell sind auch Begriffe des Themenkomplexes Ideologien überrepräsentiert, zum Beispiel „sozialistisch“, „kommunistisch“, „kapitalistisch“ und „antifaschistisch“. Weiterhin haben sich Begriffe wie „unterrepräsentiert“, „abgehängt“ und „marginalisiert“ durchgesetzt, während bestimmte Themen (e.g. „Strukturwandel“ und „Deindustrialisierung“) ebenfalls vor allem in Bezug auf Ostdeutschland diskutiert werden, obwohl sie eigentlich nicht nur dort relevant sind. Die besonders selten verwendeten Adjektive sind immer noch hauptsächlich solche mit positiven Assoziationen. Die Autoren verknüpfen die Überrepräsentation der Verben „protestieren“, „beklagen“ und „schimpfen“ mit der anscheinend weiterhin praktizierten klischeehaften Berichterstattung über Ostdeutsche als „Jammerossis“. Auszüge aus den Ergebnissen der Studie sind unten zu finden.

Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025
Kopplin & Jacobs 2025

Was macht man jetzt mit diesen Befunden? Sie ausführlich einzuordnen ist nicht meine Aufgabe, das haben die Autoren der Studie schon ausreichend getan, wer also daran interessiert ist, was es aus kommunikations- und medienwissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen gibt, der sollte die Studie selbst lesen. Ich habe mir ein paar Punkte herausgesucht, die ich noch einmal kurz erwähnen möchte.


Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ für die gesamte Medienberichterstattung über den Osten. Wie es die Autoren auch erwähnen, ist es sehr wahrscheinlich, dass die Rundfunk-Berichterstattung der ARD regional differenzierter und weniger stereotyp und einseitig ist. Die Arbeit des MDR ist nicht umsonst eine regelmäßige Quelle für unsere Arbeit auf diesem Blog – weil ostdeutsche Themen dort eben mit mehr Interesse und Grautönen verhandelt werden. Zudem werden die Zeitungen, deren Artikel hier analysiert werden, nur zu einem sehr kleinen Teil von Menschen in Ostdeutschland gekauft und gelesen. Was aber – gerade mit diesen Befunden im Kopf– ebenfalls ein Teil der Geschichte ist: diese Zeitungen werden auch nur zu einem kleinen Teil von Menschen in Ostdeutschland gemacht. Wäre es anders, gäbe es einen Diskurs, der gleichberechtigt von Menschen mit ostdeutscher Biografie mitgestaltet werden kann – dann wären die oben beschriebenen Tendenzen vielleicht nicht so eindeutig. Zeitungen und Medien, in denen Ostdeutschland auf schwarzgekleidete Männer und fahnentragende Demonstrierende reduziert wird, werden vielleicht nicht im Osten gelesen, dafür aber im Westen und, viel zentraler, von Menschen mit politischem, wirtschaftlichem, gesellschaftlichem Einfluss. Das allein sollte Grund genug sein, sich die Ergebnisse dieser Studie zu Herzen zu nehmen.


Zweitens (und vielleicht noch wichtiger): Die überdurchschnittliche Assoziation von Ostdeutschland mit rechter Ideologie ist vielleicht nur ein Teil dieser selbsterfüllenden Prophezeiung. Was vielleicht viel problematischer ist, ist die andauernde Beschreibung des Ostens durch Begriffe, die „Machtlosigkeit“ suggerieren. „Ehrenamtlich“ ist wiederholt eines der am wenigsten verwendeten Adjektive im Ostdeutschland-Kontext. Die Fähigkeit, positive und konstruktive Veränderungen zu bewirken, wird den Ostdeutschen abgesprochen. Im Kontext eines solchen Diskurses überraschen mich die zahlreichen enthusiastischen Reaktionen gar nicht mehr so sehr, die wir – oft aus Westdeutschland – auf den Blog bekommen. Aber in so ziemlich jeder ostdeutschen Kleinstadt, in jedem Dorf gibt es engagierte, begeisterte Menschen, und ja, auch solche, die sich gegen Rechtsextremismus aussprechen. Ostdeutschland ist nicht machtlos. Vielleicht sollten wir darüber öfter reden. Hanna Kopplin, Martin. & Jacobs, Olaf. 2025. Es ist kompliziert ... Der Osten in den Medien. (https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/dossier-ostdeutschland-in-den-medien-100.html, abgerufen am 08.05.2025.)

 
 
 

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