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Ein (Goldener) Spatz zum Weltkindertag - was bitte?

Ein unweigerlicher Teil jeder Ost-Sozialisation ist es, hin und wieder Wörter zu verwenden, die andere entweder gar nicht oder unter einer anderen Bedeutung kennen. Jägerschnitzel ist so ein Wort, Bückware ein anderes (auch wenn dieses wohl nicht mehr in aktiver Verwendung ist). Ich erinnere mich immer gerne an ein Gespräch mit einer westdeutsch geprägten Person, die mir vom KonSUM erzählte, der ja in der DDR so wichtig war (sie meinte natürlich den KONsum, aber ich hielt das für so einen aussagekräftigen Versprecher, dass ich es nicht ansprach). Die Situation existiert natürlich auch umgekehrt: auch ich sehe mich manchmal mit Wörtern konfrontiert, die mir nichts sagen.


Letztens beim Frühstück stellte meine Mutter mit einem breiten Lächeln drei Schokoladenpackungen auf den Tisch und verkündete, "Alles Gute zum Kindertag!" Der betreffende Tag war bei uns in der Familie immer mit einem besonderen Ausflug oder ähnlichem honoriert worden. Mein Bruder erzählt heute noch von dem einen Kindertag, an dem er voller Vorfreude nach Dresden verfrachtet wurde, nur um dann seinen Vormittag in einem Festmodengeschäft zu verbringen, in dem ich mein Konfirmationskleid kaufen sollte. Mein Vater und er verließen irgendwann das Geschäft, um in der nahegelegenen Globetrotter-Filiale die Kältekammer zu testen. Aber zurück zum Thema. Die diesjährige Kindertagsankündigung meiner Mutter stieß auf Unverständnis. Kindertag, im Juni? Sei der nicht im September? So zumindest nahm es die westdeutsch sozialisierte Person auf, die neben mir am Tisch saß. Ich hatte das Gefühl, es möglicherweise mit einer Ost-West-Anomalie zu tun zu haben. Schrieb dann Weronika - ihre Reaktion lässt sich so zusammenfassen: "Was, das ist ein Ostding?" (eine akkuratere Transkription ihrer Reaktion wäre "WAS DAS IST EIN OSTDING"). Wie erwartet stellte sich der Kindertag am 1.6. tatsächlich als ein Ostding heraus.


Nach Recherche in einschlägigen Netzwerken (Wikipedia und der WDR) lernte ich, dass es in Deutschland zwei Kindertage gibt, die jährlich zelebriert werden. Der Internationale Kindertag am 1. Juni existiert seit 1949, ins Leben gerufen von der Internationalen Demokratischen Frauenföderation (wenn ich gewusst hätte, dass man als NGO Feiertage kreieren kann, hätte ich sicher schon längst eine gegründet). Ab 1950 wurde der Internationale Kindertag ein fixer Termin in vielen Ostblock- und sozialistischen Staaten. Auch in der DDR war der Juni-Kindertag seit 1950 etabliert, Ausflüge, schulfrei, Pionierhalstücher, von allem ein bisschen. In vielen Ost-Familien wurde das Ganze auch nach 1989/90 aufrechterhalten, wenn Weronikas und meine Familien hier als Beispiel herhalten können. Heute noch ist der Juni-Kindertag ein offizieller Feiertag in einigen der ehemals sozialistischen Staaten.


Der Weltkindertag am 20. September geht auf einen Beschluss der UN-Vollversammlung 1954 zurück, der den Mitgliedsstaaten nahelegte, einen Kindertag einzurichten. In der BRD wurde dafür der 20. September ausgewählt, der aber viele Jahre lang nur wenig Aufmerksamkeit als Kindertag erhielt. Als 1989 die UN-Kinderrechtskonvention beschlossen wurde, änderte sich dies zumindest teilweise (die UN-Kinderrechtskonvention ist übrigens von mittlerweile allen UN-Mitgliedsstaaten ratifiziert worden, zuletzt von Somalia und dem Südsudan. Nun ja, von fast allen. Als einziger UN-Staat erkennen die USA die Konvention nicht an). Seit der Wiedervereinigung gibt es in Deutschland zwei Gelegenheiten zum Feiern: in Ostdeutschland üblicherweise am 1. Juni, in Westdeutschland (und im politischen Betrieb) am 20. September. Die Süßigkeiten am 1. Juni sind also, wie wir lernten, tatsächlich ein Ost-Ding. Und für eine kleine, finale Portion Humor: Der Weltkindertag am 20. September ist in nur einem Bundesland ein gesetzlicher Feiertag - und zwar in Thüringen.


Zeitgleich mit dem ostdeutschen Juni-Kindertag findet in Erfurt aktuell ein weiteres Highlight ostdeutscher Gesellschaftsgeschichte statt. Das Kinder-Medien-Festival Goldener Spatz existiert seit 1979 in Gera, ursprünglich unter dem Namen "Nationales Festival ,Goldener Spatz‘ für Kinderfilme der DDR in Kino und Fernsehen". Ein Festival in Ostdeutschland, das bundesweite Aufmerksamkeit erfährt - das ist der eine Grund, warum man genauer hinschauen sollte. Was aber vielleicht noch spannender ist, ist die Tatsache, dass der Goldene Spatz ein DDR-Produkt war, was die Wende überlebt hat, um sich heute eine prominente Stellung in der hiesigen Kulturlandschaft gesichert zu haben - es ist tatsächlich das größte Kindermedienfestival im deutschsprachigen Raum. Wer sich mit den 1990ern auskennt, weiß, dass das nicht unbedingt eine Selbstverständlichkeit war.


Eine Woche lang werden 38 Film- und Fernsehprojekte in Gera und Erfurt gezeigt, 212 Vorschläge wurden dieses Jahr für das Festival eingereicht, so viele wie noch nie. In Zeiten, in denen die Kulturbranche immer mehr unter Zugzwang durch finanzielle Kürzungen steht, stellt das Land Thüringen dem Festival dieses Jahr sogar mehr Geld zur Verfügung - auch ein Statement. Dazu gibt es Publikumsgespräche, medienpädagogische Angebote und Informationsveranstaltungen. Ursprünglich war das Festival in erster Linie ein Arbeitstreffen der DDR-Kinderfilmszene, 1979 waren es dann schon 100.000 Kinder, die in Gera und Umgebung teilnahmen und 40 Filme ansahen.


Die Unsicherheiten nach der Wende fasst das Spatz-Wiki treffend zusammen: "Der SPATZ musste eine neue, gesamtdeutsche Identität finden. Aus dem ersten Zusammentreffen von Sandmann und Schnatterinchen, Samson und Alf entstand ein neues, gesamtdeutsches Forum für die Sichtung von Kinderprogrammen, für die Diskussion, Bewertung und Prämierung von medialen Angeboten – so etwas gab es bis dahin auch in Westdeutschland nicht." 1993 wurde dann die Kindermedienstiftung Goldener Spatz gegründet, die von MDR, ZDF und RTL, der Thüringer Landesmedienanstalt, der Mitteldeutschen Medienförderung und den Städten Gera und Erfurt bis heute getragen wird. Spannenderweise war dies auch bundesweit die erste Zusammenarbeit von öffentlich-rechtlichen und privaten Rundfunkhäusern - und das alles für die Erhaltung eines ostdeutschen Kinderfilmfestivals. 

Die (Weiter)Existenz des Festivals steht den Vorurteilen entgegen, die meinen, dass Kindheit in der DDR nur im Wortsinn "mangelhaft" gewesen sein kann (siehe dazu auch diesen Text von Weronika). Es beweist jenen das Gegenteil, die der Meinung sind, dass es in Ostdeutschland ja keinerlei Kultur, Zivilgesellschaft und Engagement gäbe. Und - in Zeiten, in denen an Kinder und ihre Wünsche immer öfter eher in zweiter Linie gedacht wird - es ist eine Möglichkeit für Empowerment und Mitbestimmung: die meisten Preise des Festivals werden nach wie vor von der Kinderjury vergeben.

Hanna

 

(P.S. Mit Ausnahme von einzelnen - ostdeutschen? - Bundesländern sind weder der Kinder-, noch der Frauen- oder Muttertag gesetzliche Feiertage. Vielleicht eine nette Erinnerung, wenn die Tagesschau mal wieder fröhliche Bilder von Männergruppen auf öffentlichen Sauftouren teilt.)

 
 
 

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