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Aachen trifft Görlitz. Dokumentation einer Begegnung.

Aktualisiert: 20. Sept.


Der Aachener Dom
Der Aachener Dom

Es liegen 625 Kilometer Luftlinie, siebeneinhalb Stunden Auto-Fahrtzeit und knapp neuneinhalb Stunden Bahnfahrt zwischen Aachen und Görlitz, der westlichsten und der östlichsten Stadt Deutschlands. Die Navigation ist nicht schwer. Wahlweise kann man auf der A4 sehr lange in eine Richtung fahren oder sich für eine Zugfahrt entscheiden, für die man in der Regel aber erst mal nach Berlin muss, um überhaupt einen ICE zu erreichen, der Ost- und Westdeutschland miteinander verbindet.


Wenn es schon nicht das Fernverkehrsnetz der Deutschen Bahn ist, so muss es doch andere verbindende Elemente geben. Dies ist zumindest die Erwartung der Teilnehmenden eines Begegnungsprojekts der besonderen Art, die sich im Juni 2025 in einem sanierten Gutshof etwas außerhalb von Aachen einfinden. Der Gutshof, der zum Tagungszentrum und ökologischem Landwirtschaftszentrum umgebaut ist, stellt die Szene für eine Ost-West-Begegnung dar. Kommunikation miteinander statt übereinander, und das im fünfunddreißigsten Jahr nach der deutschen Einheit – das ist das Ziel.


Von einem Erstkontakt kann in diesem Fall allerdings keine Rede sein. Die Gruppe kennt sich bereits von einem vorangehenden Treffen im Sommer 2024, als die Aachener Görlitz besuchen, im Gepäck den Wunsch, Ostdeutschland besser zu verstehen. Die Initiative geht von einem Aachener Nachbarschaftsverein aus, der mithilfe eines Aufrufs in der Sächsischen Zeitung nach Teilnehmenden aus Görlitz und Umgebung sucht. Mit Erfolg: Fünf Tage dauert der Besuch der Aachener in Görlitz, jetzt, 2025, steht der Gegenbesuch an.


Ostdeutschland besser verstehen, das ist nun auch das nicht gerade niedrig gesteckte Ziel, was Weronika und ich mit diesem Blog verfolgen. Zum Gegenbesuch der Görlitzer in Aachen sind wir eingeladen, um über unsere Initiative, unsere Erfahrungen und den Ost-West-Blick der jüngeren Generation zu sprechen. Wir werden am geplanten Workshop-Tag der Gruppe mitwirken, zusätzlich sind Ausflüge ins Dreiländereck DE-BE-NL, außerdem ein Grillabend und eine Stadtführung geplant.


Die Vergangenheit ist allgegenwärtig an diesem Wochenende, sie wird beredet, bewertet, erinnert. In der Erzählung der Vergangenheit, so ist mein Eindruck, können sich Ost und West so friedlich einig sein, Emotionalität wird Raum gegeben, die persönliche Biografie steht im Mittelpunkt. Wie war das mit dem Gemeinschaftssinn in der DDR, wie war das mit der Demokratie nach 1990, wie war das mit der Stasi-Aufarbeitung? Es gibt viel Zuhör- und auch viel Fragenbedarf. Ich gewinne den Eindruck, manche Ost-Teilnehmer warten schon sehr lange darauf, von ihren Erfahrungen erzählen zu können. Es geht um schöne Erinnerungen, um Kindheit und Jugend, aber eben auch um die Wende-Erzählung, um Enttäuschungen, die mit dem neuen System Demokratie und Marktwirtschaft gemacht wurden, um Unsicherheiten. Nur selten kommt die Sprache auf die Gegenwart, Wahlergebnisse und Demos sind zweitrangig.


Und das, obwohl durchaus mehrere Teilnehmende darauf hinweisen, dass es gerade negative Erfahrungen oder (die Berichterstattung über) die politische Lage in Ostdeutschland waren, die sie dazu brachten, am Projekt mitzuwirken. Eine bewusste Entscheidung, die eigene Meinungsbildung zu hinterfragen. Eine Weigerung, zuzulassen, dass einzelne Erfahrungen das Bild von einer gesamten Menschengruppe prägen. Die Hoffnung darauf, durch direkten Kontakt gemeinsam weiterzukommen. Und auf ostdeutscher Seite: Neugier auf die Neugierigen. Für einige war es das erste Mal, von westdeutsch sozialisierten Menschen ergebnisoffen nach ihrem Ostdeutsch-Sein gefragt zu werden. Das Redebedürfnis, das bemerken Teilnehmende aus beiden Gruppen immer wieder, scheint groß.


Der Osten erzählt. Zwischendurch empfinde ich immer mal Neugier auf die Biografien der westdeutschen Teilnehmenden – fragen würde ich ganz gerne, aber ich traue mich nicht ganz, weil ich den ostdeutschen Erfahrungen ihren Raum lassen will. Das nächste Treffen ist in Naumburg geplant, erfahre ich später. Vielleicht werde ich da mit einem Fragenkatalog auftauchen: Wie war es, die Mauer von Westen aus zu betrachten? Wie wurden die 90er erlebt, welche Emotionen begleiteten die Wiedervereinigung? Wie wurde in westdeutschen Familien über die DDR gesprochen? Was, denkt ihr, hat die ideologische Teilung mit der westdeutschen Bevölkerung gemacht – und wirkt das vielleicht sogar bis heute nach?


Am Nachmittag wird das Wort an Weronika und mich übergeben. Wir zeigen die Texte auf dem Blog, erklären Begriffe wie „Gen Z“ und „N5“, erzählen von Erfahrungen mit westdeutsch sozialisierten Gleichaltrigen. Uns überrascht die Überraschung, fast schon der Schock, der uns gespiegelt wird, als wir über Stereotype und Abwertungen sprechen, die wir erfahren. Immer noch, nach so langer Zeit, denken junge Leute auf diese Art über Ost und West? Im Hinterkopf bin ich etwas beruhigt von diesen Reaktionen – wir werden nicht als Jammerossis betrachtet. Gerade noch mal Glück gehabt und das Stereotyp nicht versehentlich bestätigt.


Wir sprechen auch über die in unseren Augen bestehenden Missstände der Gegenwart. Ich habe das Gefühl, damit bringen wir auch etwas Auseinandersetzung in die Reihen der Gruppe – hoffentlich konstruktive Auseinandersetzung, denke ich. Sich in einen Raum zu begeben, mit anderen und mit der eigenen Person intim, offen und ehrlich zu sein, das erfordert Mut. Aber es war auch horizonterweiternd, dieser direkte Ost-West-Kontakt. Ich selbst mache die Erfahrung, in einer Gruppe von Älteren ernst genommen zu werden, was sich auch nicht schlecht anfühlt. Den Vorwurf meiner Generation wiederum, die Generationen vor uns seien festgefahren und engstirnig, kann ich nach diesem Wochenende ebenfalls nicht teilen. Alle Vorurteile sind nicht abbaubar in einer so kurzen Zeit, aber es ist ein Anfang.


Was nimmt man mit? Gegenseitiges Verständnis, Herzlichkeit, Vertrauen und das Bewusstsein, dass „drüben“ Interesse da ist. „Ich habe erstmals wirklich begriffen, wie schicksalhaft die Wende für jeden Einzelnen war. Die Dimensionen waren mir bis dahin nicht wirklich bewusst. Ich merke, ich habe einen riesigen Respekt bekommen vor der Anstrengung und der Leistung, die jeder Einzelne erbracht hat, um das eigene Leben in der Nachwendezeit zu meistern. Ich sehe die Menschen in Ostdeutschland jetzt mit ganz anderen Augen“, so drückt es Christiane aus, eine der Teilnehmenden. „Wildfremde haben sich kennengelernt und sind zu Freunden geworden.“, schreibt mir Andreas. „Im Verlangen, dem Bruch in unserer Gesellschaft etwas entgegenzusetzen, sind wir uns einig. Nur mit unserer Nachbarschaft ins Gespräch zu kommen, ist zu wenig. Parteien haben keine wirklich neuen Ideen, das Land zu befrieden. Ich wünsche mir ein starkes Netzwerk mit unserem Handeln als ein Teil einer Lösung.“


Von fast allen Teilnehmenden hört man den Wunsch, dass es weitergeht mit der Begegnung. Neben weiteren Treffen der Görlitz-Aachen-Gruppe hoffen viele, dass sich auch andere inspirieren lassen, ähnliche Projekte anzustoßen. Mögliche Ausgangspunkte: deutsch-deutsche Städtepartnerschaften oder Schulprojekte, um besonders die jüngeren Generationen gezielt einzubeziehen. Das, was man selbst mitgenommen hat, das könnte auch für andere bereichernd sein: Dialog, Zuhören statt Urteilen, die Bildung eines starken Netzwerks über Ost und West hinweg. Eine Teilnehmerin schreibt später, dass man mit unterschiedlichen Prägungen einen umso breiteren Erfahrungsschatz hat, aus dem man schöpfen kann. Sie wünscht sich weiteren Austausch: darüber, was von Ost und West unter Meinungsvielfalt, Demokratie und Freiheit verstanden wird. Jemand anderes wünscht sich einen Austausch darüber, was die Abgrenzung zur DDR und der Systemkonflikt mit dem Westen gemacht haben – und ein Gespräch mit denjenigen, die sonst nur als blauer Balken in Diagrammen sichtbar gemacht werden. Es bleibt also Potential für Weiteres – mit großem W.


Die Rückfahrt steht an. An der Bushaltestelle mache ich Platz für einen älteren Herrn, der sich neben mich auf die Bank setzt. Ob ich studiere, möchte er wissen, in Aachen? Nein, Jena, aber ursprünglich aus Görlitz. „Ach jaa, Görlitz, natürlich kenne ich das“, in breitem Rheinisch, „da kam unsere Sekretärin damals her“. Nach der Wende, denke ich, aber nein, nach dem Krieg. Mit der bestechenden Art mancher Leute, Themen so rabiat wie möglich zu wechseln, beginnt er, mir von Musikern zu erzählen, die sein Leben begleitet haben. Ich erkenne leider keine Namen, aber seine Energie ist ansteckend, sodass ich den Bus nur mithilfe eines kleinen Sprints nicht verpasse.


Aus dem Zugfenster später Kraftwerk, Bagger und Förderturm am Horizont. Die Flutung des Tagebau Berzdorf bei Görlitz hat zehn Jahre gedauert. Dieses besonders gefräßige Loch hier im äußersten Westen wieder zu einem Stück belebter Natur zu machen, wird vierzig Jahre dauern, das habe ich jetzt gelernt. Ein halbes Leben kann geführt werden in der Hoffnung auf blühende Landschaften. Umso schöner, wenn sie sich irgendwann am Horizont abzeichnen.

 

Hanna


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2 Kommentare


Euer Bericht hat mir gut gefallen. Zum einen weil er die Stimmung in unsere Gruppe und beim Treffen sehr gut wiedergibt, zum anderen, weil ihr einen schönen Schreibstil habt.

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Vielen Dank für den interessanten Einblick in die Partnerschaft. Ost/Westdeutschland, mit vielen im Text angesprochenen Themen interessiert mich sehr!

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