Unsere Rezension zum SPIEGEL-Portrait.
- Eastplaining Blog
- 22. Apr.
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 24. Apr.
Hallo, liebe neue und alte Leser*innen.
Uns erreicht seit gestern immer mehr ermutigendes, unterstützendes, tolles Feedback, nachdem der SPIEGEL ein Kurzportrait über uns veröffentlicht hat. Dafür möchten wir uns bedanken. Alle, die sich in der jetzigen Zeit online, auf dem Land, in kleineren Städten, in Ostdeutschland engagieren, wissen, wie wichtig diese Unterstützung ist. Sie hilft dabei, den Mut nicht zu verlieren und weiterzumachen. Wir wünschen euch allen viel Spaß beim Stöbern auf dem Blog und freuen uns, dass ihr den Weg in unsere Ecke (Ost)deutschlands gefunden habt.
Wir haben hier schon einige Rezensionen veröffentlicht. Mir scheint es also eine vielversprechende Idee, eine Rezension unseres eigenen SPIEGEL-Portraits zu schreiben. Oder zumindest den Versuch zu wagen. Das Portrait findet ihr hier, für alle, die es noch nicht kennen - für das Verständnis dieses Textes ist ein Anschauen fast unerlässlich. Was sagt also eine Ostdeutschland-Bloggerin zu einem Video über zwei Bloggerinnen aus Ostdeutschland?
Gegenfrage.
Kann ein Beitrag über ostdeutsche Themen, der von einem westdeutsch geprägten, reichweitenstarken Medienhaus veröffentlicht wird, ohne Videoaufnahmen von Nazi-Gruppen auskommen?
Bevor wir dem SPIEGEL eine Zusage gaben, überlegten wir hin und her. Wir waren ein Blog, ein Instagram-Account mit zu dem Zeitpunkt knapp über 200 Follower*innen und zwei meinungsstarke Personen. Wir hatten mal Herrn Steinmeier unsere Visitenkarte gegeben, na gut. Warum sollte man über uns berichten? Dann das Stichwort: Görlitz. Görlitz macht sich gut als Schlagzeile; das kann man zum Beispiel so machen: „Junges Duo aus AfD-Hochburg“. Da bleibt viel Raum für Differenzierung. Wie diese Studie zeigt, ist "rechte Hochburg" und "Problemfall" das typische Berichterstattungsmuster, wenn es um den Osten geht. Wir waren dementsprechend vorsichtig. Sollen da nur wieder irgendwelche Stereotype reproduziert werden? Fällt der Beitrag nicht wieder in die "Ossi-Wochen", in denen typischerweise im Herbst - oder aber nach Wahlen - auf einmal alle überregionalen Medien den Osten erklären wollen - nur um dann ein paar Wochen später wieder nichts mit ostdeutschen Themen anfangen zu können? Was also tun. Wir sagten zu, unter Vorbehalten. Wir wollten den Beitrag vor Veröffentlichung autorisieren, weil wir alle unsere Interviews autorisieren (lassen), weil wir uns nicht als Repräsentantinnen einer Gruppe inszenieren und instrumentalisieren lassen möchten. Das ging nicht. Wir äußerten uns besorgt, wollten eine Einschätzung zum Endprodukt geben. Gleichzeitig machten wir uns Vorwürfe: Haben wir hier gerade Vorurteile? Gegenüber den Medien? Als Ostdeutsche? Dürfen wir das überhaupt?
Wir entschlossen uns, Vertrauen zu haben, und verbrachten anderthalb Drehtage in Görlitz, davon eine knappe Stunde (!) auf der Gegendemo. Wir sprachen über Kontext und plakative Verkürzungen. Über Ursachen von Radikalisierung, die angegangen werden können und müssen. Über die Tatsache, dass 70% der gesamten AfD-Stimmen aus westdeutschen Bundesländern kommen, und dass darüber irgendwie niemand spricht. Über das Görlitzer Theater und den Thüringer Tolkien Tag. Über den Trend, dass westdeutsche Kommunen heute AfD-Wahlergebnisse verzeichnen, die so hoch sind wie die im Osten vor vier Jahren. Wir erzählten von struktureller Benachteiligung, nicht nur von vereinzelten Begegnungen mit Vorurteilen. Wir sprachen von zu wenigen ostdeutschen Stimmen in den Redaktionen der überregionalen Medien, davon, dass westdeutsche Medien ihre Inhalte mit einem westdeutschen Publikum im Kopf produzieren. Vom Safari-Journalismus, den Großstadtjournalist*innen in ostdeutsche Kleinstädte unternehmen, um „mal den richtigen Osten zu zeigen“. Vielleicht habe ich mich da zu kompliziert ausgedrückt. Demos machen bessere Bilder.
Das Video beginnt nicht mit uns, sondern mit einem älteren Herrn, der gegen „das System“ ist, und mit schwarzbekleideten Trupps um die Muschelminna in Görlitz. Ich bin wenig eitel, aber ich hätte es schön gefunden, wenn man in einem Beitrag über Ostdeutschland zur Abwechslung mal nicht mit den Bildern einsteigt, die eh schon jede*r kennt. Was ist der Mehrwert? Wir kennen das doch alles. Und an die Leute aus Görlitz: Sorry, dass es jetzt so aussieht, als würdet ihr euch vor Rechten (und) Demonstrierenden kaum noch retten können, obwohl es für den Alltag in Görlitz jetzt nur so mittelmäßig relevant ist, wenn da ein versprengter Haufen von 0,002% der Stadtbevölkerung auf dem Marienplatz demonstriert. Und hinter Görlitz hört die Landkarte nicht auf, da ist nicht das Ende, die Provinz, das, wonach nichts mehr kommt.
Es war nicht unsere Absicht, uns als tapfere Kämpferinnen gegen den blauen Sumpf zu inszenieren. Das sind wir auch gar nicht, deswegen ist uns dieser Post hier so wichtig. Wir wollen nicht noch mehr polarisieren. Die Menschen sind nicht dumm, auch die Montagsdemonstrierenden nicht, auch die Impfgegner nicht, auch die „Rechten“ nicht (und wer sie dafür hält, macht bereits den ersten Fehler). Wir wollten keine plakative Gegenüberstellung von „junge, gut gebildete und intelligente Bloggerinnen“ versus „ältere, leicht rückständige Alt-DDRler und Nazis“. Wir sind nicht die Guten, und „die“ sind nicht die Bösen. Dafür steht Eastplaining nicht. Wir beziehen Stellung zu Rechtsradikalismus und der AfD, ja, vor allem in Ostdeutschland, aber wir wollen uns nicht gegen andere Menschen ausspielen lassen.
Wir sind selbst Autorinnen mit fragwürdiger Glaubhaftigkeit: Man kann uns ebenfalls Safari-Journalismus vorwerfen, wir fahren nach Görlitz-Kurzbesuchen immer zurück in unsere jeweiligen Großstädte. Wir leben in einer Studi-Blase, die politisch halbwegs homogen ist. Ich fordere andere auf, nach Ostdeutschland zurückzukommen, und kann das nicht mal für mich selbst garantieren. Wir fordern Medien auf, die Kategorie „Ostdeutschland“ weniger zu bedienen, und tun das doch selbst in schönster Regelmäßigkeit. Wir standen eine Stunde auf der Gegendemo, für ein Statement, ein paar nette Bilder, und um mit einem Hund zu kuscheln. Wir sind nicht die, die sich jeden Tag mit viel Energie für den Erhalt von Zivilgesellschaft und Demokratie im Osten einsetzen, andere Menschen tun da viel mehr und viel sinnvollere Dinge. Es ist uns wichtig, dass alle, die den Blog gerade neu kennenlernen, das hören.
Was bleibt?
Wir haben ein vergrößertes Publikum, herzlich willkommen! Unsere Website-Statistiken zeigen, dass der SPIEGEL wohl verstärkt im Westen Deutschlands gelesen wird. Das Video ist also ein Produkt von einem westdeutschen Medium für eine westdeutsche Öffentlichkeit über ostdeutsche Inhalte. Nichts, was uns unbekannt wäre. Wir haben jetzt eine größere Reichweite, besonders in Richtung Westen, und können sie hoffentlich würdigen. Vielleicht können wir die Publicity nutzen, um andere wichtige ostdeutsche Stimmen zu stärken. Wir konnten im Video ja auch durchaus auf ein paar (uns) wichtige Inhalte eingehen. Die Botschaft des Videos ist wohl ein Gewinn - da sind nicht alle rechts, hier sind zwei, die sich engagieren. Es gibt gleich zwei Anti-Aufrüstungs-Aussagen, und zwar nicht nur von den Montagsdemonstrierenden. In der deutschen Medienlandschaft nicht selbstverständlich.
Journalismus ist unter Druck. Zeitstress, schwindende Absatzmärkte, verkleinerte Redaktionen, russische Bots und TikTok, mit denen man um Aufmerksamkeit konkurriert. Das wissen wir, und es ist uns klar, dass für einen 6-Minuten-Beitrag über ein nur mäßig relevantes Thema nicht viel Energie übrig sein kann und muss. Aber Journalismus hat auch Verantwortung, und zwar besonders und gerade, wenn es um die Darstellung von 18 Millionen Menschen und einem komplexen geographischen und kulturellen Raum geht. Wir hatten gehofft, dass das Video etwas „anders“ macht. Wenn man auf der SPIEGEL-Website nach Görlitz sucht, wird deutlich, dass unser Portrait vielleicht wirklich eine Verbesserung darstellt. Die Ossi-Karikatur, Wutbürger, russlandtreu, die netten Filmchen von irgendwelchen Demos, die schwarzgekleideten Männergruppen, ohne die kommt aber eben auch dieses Video nicht aus. Ich mag es nicht, als Gegenentwurf zu einer Karikatur dargestellt zu werden. Ich mag es nicht, gebeten zu werden, die vielschichtige Gesellschaft und Radikalisierungsursachen in Ostdeutschland zu erklären, nur damit am Ende wieder nur die Karikatur übrig bleibt. Was in den überregionalen Medien seit Jahren passiert, lässt sich so zusammenfassen: "[D]ie Beschreibung ostdeutscher Realitäten [erfolgt] überdurchschnittlich häufig in Verbindung mit [Rechtsextremismus]. Ostdeutschland wird seit Jahrzehnten vor allem als Problemfall thematisiert." Es scheint also nicht ohne Stereotype und Demo-Interviews zu gehen, selbst mit dem gut gemeinten Ziel, es anders als die anderen zu machen. Es hätte den SPIEGEL nichts gekostet, uns mit gutem Willen unseren Senf dazugeben zu lassen, um die im Video durchaus präsenten problematischen Darstellungen in der Ostdeutschland-Berichterstattung zu verhindern. Aber Feedback aus Ostdeutschland zu einem Beitrag über Ostdeutschland schien nicht als notwendig erachtet zu werden.
In einem Punkt wird das Video (hoffentlich) recht behalten: Wir werden weiter erklären (können). Aber nicht dem „Osten“ und auch nicht dem „Westen“. Sondern denen, die uns hören möchten. Wir möchten uns und dem Blog treu bleiben und zu dem stehen, was wir schreiben, auch im Angesicht von hunderten neuen Followerinnen und Abonnenten. Auch, wenn es manchmal und für manche und im Idealfall auch für uns unbequem ist.
Hanna & Weronika
P.S.: Wenn wir nur eine Empfehlung für das Video gegeben hätten, wäre es wohl die hier gewesen: Wenn man nach einem Tag Ostdeutschland-Kleinstadt-Trip mitsamt Kamera wieder in eine linksgrüne, westdeutsche Großstadt zurückfährt, könnte man die, die in der ostdeutschen Kleinstadt verbleiben, vielleicht zumindest mal fragen, bevor man Großaufnahmen von Montagsdemonstrierenden und Nazi-Trupps in das Portraitvideo aufnimmt, in denen sie mit vollem Namen und Gesicht gezeigt werden. Uns hätte daran einiges gelegen. Unsere Familien wohnen in Görlitz.
Gute Blog-Startpunkte für neue Leser*innen:
Der Tag danach - Hannas Reaktion auf die Reaktion: Landtagswahlen 2024
Zivilcourage. Raus aus den Blasen! - Weronikas Plädoyer für mehr Alltagscourage statt moralischer Oberhand
Wie man die AfD überwindet. Eine ostdeutsche Anleitung. – Hannas Sammelsurium an Ideen, wie man die AfD politisch irrelevant machen könnte
Für wen schreibe ich? Eine Reflexion. – Weronikas Überlegungen zu unserem eigenen Publikum: was wollen wir eigentlich wem sagen?
Falls bei einigen der älteren Posts Textteile fehlen, tut uns das leid. Wir sind erst vor Kurzem auf eine neue Website umgezogen und haben noch nicht alle Texte überprüft, die mit uns umgezogen sind.
Unsere Ostdeutschland-Ressourcen und tolle, engagierte Menschen:
und noch viele mehr!
Moin aus dem äussersten Westen, von einem der zufällig dereinst in Thüringen das trübe Licht der ostdeutschen Provinz erblickt hat. Zuerst, ihr habt absolut Recht, der Spiegel macht was der Spiegel macht, er produziert Bilder für [s]eine westdeutsche Kernleserschaft. Diese Bilder und deren Abfolge gleichen sich immer wieder und sie lenken das Denken. Es wiederholt, was leicht zu verarbeiten ist, weil man es schon kennt. So weit, so schlecht und vorhersehbar. ABER! Neulich hörte ich aufmerksam einem Podcast zu, als Gast war Simon Strick geladen und der sagte etwas sehr interessantes und ich fasse sinngemäß zusammen: Das was häufig fehlt, nach der Analyse, dass Höcke ein Faschist ist, dass im Osten (wer hätte das gedacht) das gesamte Rechtsextreme Spektrum zu…
ein Hinweis von Einer, die vor 4 Monaten von West nach Ost gezogen ist: Für den Frieden zu stehen und auf die Strasse zu gehen ist LINKS. Vor einigen Jahren hätten dem 95% aller Bundesbürger zugestimmt. Jetzt erfolgt plötzlich - aber sicher mit Hintergedanken - eine neue Zuschreibung, jetzt schreiben von Zeit bis Spiegel bis ... die ehemals friedensbewegten Medien, das Einstehen für eine freidliche Welt sei rechts. Und stürzen damit nicht wenige, die als links verstehen (ihr Leben lang so verstanden haben) in einige Unsicherheit. Oder auch nicht. Frieden ist ein linkes Projekt. Und übrigens gab es gerade ein schönes Beispiel in Leipzig, hier war der Ostermarsch so eindeutig von links organisiert und getragen, eindeutiger geht nicht. Rote Fahnen…
Hallo Hanna und Weronika, ganz wunderbar, was Ihr dort in die Runde stellt.
Vor einem Jahr haben uns ein Aachner Verein über die SZ angefragt ob sich interessierte Görlitzer mit Ihnen zusammensetzen möchten. Ungefähr 20 Görlitzer fanden das gut und trafen sich an einem langem Wochenende im Kühlhaus Görlitz. Es wurde diskutiert, gekocht und Musik gemacht. Westdeutsche interessierten sich für Ossis und warum Jene so anders ticken ? ! Welch ein Novum. Es wurde uns zugehört und nicht wie so häufig über uns gesprochen. Geblieben ist ein enger Kontakt mit zum Teil persönlichen Freundschaften und dem Willen den gegenseitigen Respekt auszubauen. Die verbliebene Görlitzer Gruppe (9 Personen )bereitet jetzt einen Gegenbesuch im Juni in Aachen vor. ( nur ein kurze…