Meine Heimat ist ungeografisch
- Eastplaining Blog
- 16. Okt.
- 5 Min. Lesezeit
Dieses Thema beschäftigt mich schon länger, und seitdem ich Ende August nach Aachen gezogen bin, werde ich wieder häufiger damit konfrontiert. Da es durchaus etwas mit Identität, der Gesellschaft und dem Osten zu tun hat, möchte ich meiner „Heimat“ einen eigenen Blogbeitrag widmen.
Fakt ist, dass mich die Frage „Woher kommst du?“ schon immer gestört hat. Weil ich nie so richtig wusste, was ich darauf antworten soll. Häufig fragen wir Menschen danach, woher sie kommen oder danach, wo ihre „Heimat“ ist, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ich möchte hiermit ein Plädoyer darauf schreiben, diese Frage zu überdenken. Warum? Ich nehme euch alle Lesenden mit auf eine kleine Exkursion in meine Familiengeschichte.
„Görlitz“ war für mich auf diese Frage nie die Antwort, denn in Görlitz habe ich keine Wurzeln. Geboren wurde ich in Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern, aber um ihren Kindern eine stabile deutsch-polnische Erziehung zu ermöglichen und weil es an der mecklenburgischen Grenze zu Polen keine Arbeit gab, zogen meine Eltern mit ihrem neugeborenen Baby (mir) nach Görlitz, wo sie keinerlei Verwandtschaft hatten. Dort bin ich aufgewachsen, aber ich würde nicht auf die Idee kommen, diesen Ort als „Heimat“ zu bezeichnen. Dafür fehlt mir die Verwurzelung, eine an diesen Ort geknüpfte lange Familiengeschichte. Görlitz ist ein sehr schöner Ort, aber für mich auch etwas austauschbar. Wenn ich dorthin fahre, sage ich nicht, dass ich „nach Hause“ oder „in die Heimat“ fahre, sondern eben zu meinen Eltern. Und würden meine Eltern in einen anderen Ort umziehen, dann würde ich sie eben dort besuchen. Natürlich hat mich das Aufwachsen in der östlichsten Stadt Deutschlands geprägt, aber ich würde sie nicht als Heimat bezeichnen. Aber sind dann die Herkunftsorte meiner Eltern meine wahre Heimat? Schwierig. Beginnen wir mit der Seite meines Vaters: Er ist wie ich in Mecklenburg-Vorpommern geboren, aber er wuchs dort auch auf und studierte dort. Seine Eltern wiederum stammen aus völlig anderen Gegenden: Meine Oma kommt aus dem Sudetenland und gelangte infolge der Vertreibung nach Mecklenburg, mein Opa wuchs in Brandenburg auf. Nach mehreren Jahrzehnten in Mecklenburg folgten die beiden ihren Kindern, die beide (zufällig!) nach Sachsen gezogen waren. Somit habe ich auch in Mecklenburg keine nähere Verwandtschaft mehr. Meine Mutter hingegen wurde in einem kleinen Ort 30km entfernt von Wrocław geboren, wo sie auch die ersten Lebensjahre verbrachte und später mit ihrer Familie in die Stadt zog. Aber auch ihre Eltern stammten aus einer ganz anderen Region, nämlich aus Ostpolen, nahe der Grenze zur Ukraine, und waren nach dem 2. Weltkrieg Richtung Westen geflohen.Wenn man den Stammbaum noch weiter hochgehen würde, so fänden sich noch viele weitere Verzweigungen und Ortswechsel. Generell kann ich aber sagen, dass in meiner Familie seit dem 2. Weltkrieg nie jemand länger als eine Generation an einem Ort geblieben ist. Ich selbst habe die letzten fünf Jahre in Erfurt gewohnt, nun lebe ich in Aachen. Aber bevor ich nach Erfurt gezogen bin, habe ich auch ein Jahr in Papua-Neuguinea verbracht.
Wo ist meine Heimat? Auf diese Frage antworte ich meistens: Es ist kompliziert. Denn egal, welchen Aspekt aus dieser Geschichte ich herauspicke, es bleibt immer nur ein Teil der Wahrheit. „Komme“ ich aus Görlitz? Zumindest habe ich dort bisher die längste Zeit, fast 18 Jahre, gewohnt. Trotzdem fühle ich mich momentan viel mehr mit der Stadt Erfurt verbunden.
Ich möchte jetzt einen Schritt weiter gehen und hinterfragen, was sich überhaupt hinter der Frage „Woher kommst du?“ verbirgt. Meines Erachtens möchte diese Frage ergründen, was die Prägungen des Gegenübers sind. Wir fragen, wo jemand beheimatet ist, um zu verstehen, wie diese Person ist. Das Problem dabei ist, dass wir Herkunft noch immer so linear wie in einem Vorkriegseuropa denken (und damit meine ich jetzt konkret den 2. Weltkrieg, denn dass es in der Menschheitsgeschichte und der Geschichte Europas schon immer Kriege und damit verbunden Völkerbewegungen und Umsiedlungen gab, ist klar – doch selten auf einer so großen Skala wie nach 1945). Aber es ist nun einmal so, dass Herkunft nicht mehr großflächig so linear ist. Den Prägungsaspekt finde ich aber sehr spannend. Damit kann ich schon deutlich mehr anfangen. (Immerhin widmen wir hier ganze Teile eines Blogs der ostdeutschen Prägung). Tatsächlich ist es wohl einfach so, dass mittlerweile individuelle, vielschichtige Prägungen existieren, die nicht allein und auch nicht mehr zu einem großen Teil auf den Ort der Geburt reduzierbar sind. Dass ich in Ludwigslust geboren wurde, hat mich bisher vergleichsweise wenig geprägt (bis auf den Fakt, dass ich jedes Mal, wenn ich eine neue Geburtsurkunde brauche, die dort bestellen muss und nicht wie meine Geschwister beim Standesamt Görlitz). Aber natürlich haben mich die Herkunften meiner Eltern geprägt, nicht als unmittelbare Orte, da ich nicht an den gleichen Orten aufgewachsen bin wie sie, aber durch kulturelle und gesellschaftliche Aspekte, und hier landen wir beim Osten, oder, besser gesagt, bei Osteuropa und dem Ostblock in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber was mich ebenso geprägt hat, ist beispielsweise die hohe Musikalität meiner Familie. Fast alle spielen mindestens ein Instrument und ich konnte vermutlich singen, bevor ich sprechen gelernt habe. Der katholische bzw. christliche Glaube wurde in meiner Familie ebenfalls weitergegeben und hat mich auf die eine oder andere Art geprägt. Und diese Aspekte, Musik und Glaube, empfand ich beim Aufwachsen als viel prägender als den Ort, an dem ich nunmal zufälligerweise wohnte.
Ich möchte darauf hinaus, dass meine Heimat ungeografisch ist, weil sich nach dem 2. Weltkrieg einfach so viel verschoben und verändert hat, dass ich - und auch meine Vorfahren - nicht mehr den EINEN Ort haben, an dem wir zu Hause sind - oder gar sein können. Und mein Fall ist ja längst nicht so beklemmend wie diese von Menschen, die in der heutigen Zeit ihre Heimat verlassen müssen und diese auch mit hoher Wahrscheinlichkeit nie wiedersehen werden, weil sie zerbombt und völlig zerstört wurde. Meine Eltern und Großeltern können an die Orte, an denen sie aufgewachsen sind, reisen. Anderen ist das nicht mehr möglich.
Was ist dann nun meine Heimat? In den letzten Jahren habe ich für mich versucht, diesen Begriff umzudefinieren und von seiner geografischen Ebene zu lösen. Heimat bedeutet für mich das Gefühl von Zugehörigkeit, aber auch das Gefühl von Verbundenheit. Und das fühle ich am Stärksten in der Advents- und Weihnachtszeit, wenn ich Lieder höre und singe, die auch meine Vorfahren schon gesungen haben, über viele Generationen hinweg, bei Kerzenschein an den unterschiedlichsten Orten, manchmal nach oben schauend, um das Muster zu beobachten, das die Pyramide an die Decke malte. Dort fühle ich mich beheimatet. Ich finde es dann nicht mehr beunruhigend, dass ich keinen “Heimatort” benennen kann, denn dieses Gefühl kann ich überallhin mitnehmen, ob ich nun in Görlitz, Erfurt, Aachen oder auf einer kleinen Insel in Papua-Neuguinea wohne.
Der Herkunftsort allein ist schon längst nicht mehr entscheidend für die Identität. Wie Hanna in ihrem letzten Beitrag gezeigt hat - Nationen sind ohnehin ein Konstrukt. Klare Zuordnungen gibt es nicht. Ich plädiere deshalb dafür, die Frage “Wo kommst du her?” durch eine neue zu ersetzen - vielleicht: “Was sind deine Prägungen?” Denn sonst werde ich weiterhin antworten mit “Es ist kompliziert”, oder vielleicht auch mal “Aus einer musikalischen Familie”.
Weronika






Ein interessanter, persönlicher, wahrhaftiger Text. Als Christ frage ich mich ebenso wie Sie, wo meine Heimat ist. Die Texte der Bibel lehren mich, hochzuschauen, über das Vergängliche hinaus. Ich muss mich oft daran erinnern, mir anzuschauen, wie die heutige Welt ist, wie meine derzeitige Heimat ist. Dieser Blick darauf, wo meine Heimat ist und was sie ausmacht, verändert mich und macht viele Dinge leichter. Viele Grüße