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Ist die Mauer noch in den Köpfen? - Bericht der Bundesregierung zu 35 Jahre deutsche Einheit

Anlässlich des 3. Oktobers fanden auch dieses Jahr wieder die gut eingeübten Routinen statt: “Warum sich junge Leute heute noch als Ostdeutsche identifizieren”, “Wir müssen endlich Lebensleistungen anerkennen” und “Lasst uns die Mauer wieder aufbauen” (von beiden Seiten). Ein Teil dieser Routinen ist der “Bericht zum Stand der Deutschen Einheit”, den die Bundesregierung herausgibt. Auch wir als Teil der Ostdeutschland-Diskursmaschine berichten über diese Berichte (und gehören damit wahrscheinlich zu einem exklusiven Kreis von knapp zehn bis zwanzig Leuten, die diese 100-Seiten-PDFs tatsächlich lesen). Hier eine Zusammenfassung. 


Ostdeutsche Eliten oder Eliten in Ostdeutschland?


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Bei der Repräsentation Ostdeutscher in Spitzenpositionen gibt es nur minimale Verbesserungen - insgesamt von 10 auf 12%. 0,0% Ostdeutsche finden sich in den Führungsebenen von Unternehmen sowie in leitenden Positionen im Militär. Am stärksten vertreten sind Menschen mit Ost-Hintergrund in der Politik (~21%), in den Gewerkschaften und der Justiz (jeweils ~15%) und in der Verwaltung (~13%). In den obersten Führungspositionen ist der Anteil Ostdeutscher sogar zurückgegangen.


Zudem festigt sich die gläserne Decke weiter. Lange war die Annahme, dass mehr Ostdeutsche in Spitzenpositionen kommen, sobald die Westdeutschen in Rente gehen, die nach der Wende Positionen übernommen haben. Dafür gibt es allerdings wenig Zeichen. Die westdeutschen Führungskräfte suchen ihre Nachfolger*innen weiterhin aus den eigenen Milieus aus. Ostdeutschen fehlen weiterhin die Ressourcen, Netzwerken und gelernten Verhaltensweisen. Selbst in den Bundesbehörden in Ostdeutschland ist der Anteil an Ostdeutschen weiterhin gering.


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Weitere Daten, die der Bericht darstellt, beziehen sich auf die Bereitschaft zu Veränderung. Dabei fällt auf, dass die Gesellschaft gar nicht so veränderungssscheu ist, wie oft angenommen - und dass die Unterschiede zwischen Ost und West nicht so groß sind, wie man laut polarisierenden Überschriften vielleicht glauben mag. Veränderungsbereitschaft hängt eher mit Einkommen und Wohnort zusammen. Menschen, die ein geringeres Einkommen haben oder auf dem Land leben, sind weniger veränderungsbereit. Damit ist die Frage von gesellschaftlichem Wandel auch eine Frage, bei der man an soziale Gerechtigkeit denken sollte - ob zwischen Stadt und Land oder Viel- und Geringverdienenden.

Mir persönlich ist dieser Satz aufgefallen: “Vor allem „Bewahrungsorientierte“ äußern größere Vorbehalte gegenüber weiterführendem Klimaschutz [...]”. Den kann man vielleicht einfach mal so stehen lassen.


Ehrenamt als Privileg


Neben diesen Zahlen stellt der Bericht auch einige Vorhaben zu Ostdeutschland vor, die die aktuelle Bundesregierung (mit)finanziert. Dazu gehören unter anderem die Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt mit ihrem Projekt  EngagiertesLand, die Gemeinschaftsinitiative Zukunftswege Ost oder das Modellvorhaben Regionale Engagementzentren stärken. Außerdem zählt dazu das Projekt KommA - Kommunale Allianzen und Strategien gegen Rassismus und Hass, der machen!-Wettbewerb, der Projekte in Ostdeutschland unterstützt, und das Aller.Land-Projekt des Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, bei dem ich auch schon mal vorhatte, mich zu bewerben. Was zur Einordnung dieser Aufzählung fehlt, ist die Information, wie viele Gelder für derartige Projekte die aktuelle Bundesregierung schon gestrichen hat oder noch streichen möchte.


Entgegen den üblichen Vorurteilen sind die Menschen in Ostdeutschland (37%) laut dem Bericht ähnlich oft ehrenamtlich engagiert wie in Westdeutschland (40%). Es gibt im Osten außerdem mehr Vereine pro Kopf und - das stimmt auch mit meiner persönlichen Wahrnehmung überein - eine eher informelle Art des Engagements. Allerdings kommt der Bericht hier zu einem entscheidenden Fehlschluss: In ländlichen Gegenden, die eher ärmer sind, sind tendenziell weniger Leute engagiert (~ 30-35%) - im Vergleich zu reicheren ländlichen Gegenden. Weil der ländliche Raum im Osten eher ärmer ist, schlussfolgern die Autor*innen, dass es mehr Engagierte im Osten braucht.


Hier werden Ursache und Wirkung vertauscht: Menschen in strukturschwachen und ärmeren ländlichen Regionen haben u.U. gar keine Kapazitäten, sich zusätzlich zur Arbeit noch zu engagieren - im Vergleich zu eher reicheren Regionen auf dem Land, wo Zeit fürs Ehrenamt gemacht werden kann, wo regelmäßiges Autofahren keine finanzielle Belastung darstellt, wo Jugendliche für “eigenes Geld” weniger auf Nebenjobs angewiesen sind. Im Osten wird nicht weniger, sondern eher mehr gearbeitet als im Westen, weniger Frauen arbeiten in Teilzeit (siehe Bericht), die Einkommen sind trotzdem geringer, die Familienvermögen und Erbschaften ungleich kleiner. Einfach zu sagen “da braucht es mehr Engagierte”, das spannt den Karren vor das Pferd - wo sollen denn auf einmal diese zusätzliche Kapazitäten fürs Ehrenamt herkommen, ohne dass an den strukturellen Voraussetzungen gedreht wird?


Die ärmeren Haushalte und Kommunen auf dem Land (im Osten) müssen deshalb unterstützt werden, sodass Ehrenamt dort überhaupt in Frage kommt. Das GFS (Gesamtdeutsches Fördersystem für strukturschwache Regionen) und die GRW (Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur), die ebenfalls erwähnt werden, sind hier zumindest ein Ansatz. Ohne ein generelles Umdenken in der gesellschaftlichen Vermögensverteilung wird diese punktuelle Förderung allein aber wahrscheinlich nicht ausreichen.


Reflexion: Deutschland heute


Der erste Teil des Berichts ist der letzte, den ich hier zusammenfasse. Es werden Fotografien von jungen Leuten aus der Lausitz und dem Rheinischen Revier gezeigt, für die ich (nur aus Transparenzgründen) selbst in der Jury saß. Außerdem kommen Stimmen aus der Ostdeutschland-Szene in kurzen Texten zu Wort. Viele Themen werden angesprochen: eine kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff der “Wiedervereinigung” im Hinblick auf die rechte Vorstellung eines Einheits-Volkes, um den Alltag als politisch Aktiver in Ostdeutschland, um die Kirchen im Osten, um Ost-West-Beziehungen.


Mit einigen Aussagen der Texte stimme ich überein: Eine differenzierte Auseinandersetzung mit der DDR hätte auch die BRD zu Selbstkritik gezwungen (Clemens Böckmann). Wir haben in erster Linie kein Ost-West-Problem, sondern ein Stadt-Land-Problem (Jakob Springfeld, Lena Burth, Patrick Albrecht). Anderen Überlegungen stehe ich kritisch gegenüber: Ich denke zum Beispiel nicht, dass nur Kirchen die Funktion einer “gemeinschaftsstiftenden Öffentlichkeit vor Ort” ausüben können (Caspar de Boor), und das sage ich als Person, die sehr genau weiß, was Kirchen gerade auf dem Land bewirken können.


Aber insgesamt machen diese Texte vor allem eins: sie halten mir selbst einen Spiegel vor. Ich bin verblüfft, wie ähnlich viele Gedankengänge meinen eigenen sind, sogar dieselben Wortspiele werden verwendet: “Wir hätten es Tag der deutschen Vielfalt nennen können, aber wir nannten es Tag der deutschen Einheit” (Paula Fürstenberg, vgl. mein letzter Blogpost). Der spannendste Teil - für mich - ist ein Gespräch zwischen Lena Burth und Patrick Albrecht, zwei jungen Bürgermeister*innen aus Ost und West, die sich über die Herausforderungen in ihren Kommunen unterhalten und dabei feststellen, dass sie ähnliche Probleme haben - kaputte Straßen, fehlende Kindergärtnerinnen, weniger Gemeinschaftsbewusstsein. Ich sage das ganz bewusst als Literaturstudentin, die auch gerne Christa Wolf liest und sich über Abstraktes unterhält: Die Ost-West-Debatte profitiert von Praxisbezug.


Fazit: Was ist jetzt mit der Mauer?


Die Mauer in den Köpfen ist verschwunden, vor allem bei den Jüngeren, so steht es auf der Website der Ostbeauftragten Elisabeth Kaiser. In ihrem Bericht steht etwas anderes. Dort kann man lesen, dass das Bewusstsein für Ost-West-Unterschiede nur bei den jungen Westdeutschen abnimmt - bei den jungen Ostdeutschen nimmt es zu. Hoffentlich stimmt das nicht. Denn was wäre es für ein Zeichen, wenn die Ostbeauftragte der Bundesregierung ihrem Meinungsbild nur die Meinungen der jungen Westdeutschen zugrunde legt?


Hanna




Alle hier gezeigten Grafiken sind direkt aus dem Bericht der Bundesregierung übernommen. Dieser ist hier einsehbar.

 
 
 

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