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“Da wächst zusammen, was zusammengehört” - der Nationalismus der deutschen Einheit


In diesen Tagen beginnt wieder die alljährliche Selbstbeweihräucherung der deutschen Politik zum Einheitsfeiertag. Und nicht nur ein lässiges Irgendwie-Jubiläum gilt es dieses Jahr zu feiern, nein! 35 Jahre ist es her, dass mit dem Beitritt der DDR-Gebiete zum Geltungsbereich des Grundgesetzes die “deutsche Einheit” erreicht wurde. Passend dazu habe ich diesen Sommer meine Bachelorarbeit abgegeben, in der ich über Nationalismus in den Medien schreibe. Es folgt: ein Exkurs in die Abgründe dieser Arbeit, gekrönt von einer persönlichen Meinung, die ich in die Bachelorarbeit nicht schreiben kann (weil Wissenschaft und so).


In der Nationalismus-Forschung unterscheidet man zwischen banalem und explizitem Nationalismus. Banaler Nationalismus besteht aus den kleinen Erinnerungen im täglichen Leben, dass man “deutsch” ist und zum “deutschen” Staat gehört. Dazu zählen “Deutschlandfarben” auf Lebensmittelpackungen, Flaggen vor Rathäusern oder kleine, aber feine Wörter in Zeitungen oder im Fernsehen, die verraten, dass hier für ein “deutsches” Publikum berichtet wird (für mehr Infos siehe Banaler Nationalismus von Michael Billig). Banaler Nationalismus ist auch das große “D” bei “Tag der Deutschen Einheit” (bei dem ich mich mühe, es zu vermeiden).


Expliziter Nationalismus (“hot nationalism”, Billig 1995) ist viel offensichtlicher: bei Ausschreitungen von Fußballfans nach Länderspielen, zum Beispiel, oder bei Staatsfeiertagen oder Jubiläen. Der 4th of July in den USA ist dafür ein gutes Beispiel. Jubiläen und Staatsfeiertage werden in erster Linie von den Personen inszeniert, die in Staat und Gesellschaft mächtig sind - also Politiker*innen, Präsident*innen, Journalist*innen.


Diese Tage reichen von Thronjubiläen bis zu Unabhängigkeitstagen und sind ein Teil des gemeinsamen Vorstellungsprozesses, bei dem sich Menschen vorstellen, zu einer Nation dazuzugehören - denn nur, wenn viele Menschen glauben, dass ein Staat existiert, existiert er wirklich. Nur, wenn alle davon überzeugt sind, Teil eines Nationalstaats zu sein, kann der Nationalstaat Schwimmbäder bauen, Steuern einnehmen, Grenzen sperren, Schulden machen, Leute abschieben oder Wohngeld auszahlen.


Die Nation wird sich also vorgestellt - in Form eines “Volkes”, einer gemeinsamen Sprache oder einer Wertegemeinschaft. In den Köpfen vieler hat ihr Land eine gemeinsame Vergangenheit, eine Zukunft, und eine klare Grenze zu anderen Nationen (Anderson 2006). Fragt man aber zehn Menschen, wird man zehn unterschiedliche Kriterien hören, was “deutsch” sein eigentlich heißt und wer überhaupt “deutsch” sein kann. Manche ziehen die Linie bei Sprachen, andere bei Religion (“Der Islam gehört nicht zu Deutschland”, Horst Seehofer, Innen- und Heimatminister 2018).


Wieder andere machen an Pfand und angekippten Fenstern fest, ob jemand “deutsch” ist. Andere zitieren Goethe und Schiller oder das ominöse “christlich-jüdische Abendland”, wieder andere verweisen auf Demokratie und Grundgesetz. Diese Uneinigkeit hängt auch damit zusammen, dass Nationen de facto nur in den Köpfen existieren und jede*r eine eigene Version hat. Es gibt KEIN “deutsches Volk”, weder biologisch noch sozial oder kulturell. Und im Übrigen auch kein “christlich-jüdisches Abendland”.


So viel zur Theorie. Aber Hanna, das ist ja schön und gut, aber das ist doch alles nur Theorie - hat doch überhaupt keine Relevanz für den Alltag. Und was hat das mit der Wiedervereinigung zu tun?


“So warnte die Abgeordnete Eva Hubert Ende April 1990: „Das aggressive Auftreten gegenüber Ausländerinnen im Rahmen dieses deutschen Vereinigungstaumels wird immer schlimmer.“ Eine Facette der deutschen Einheit ist eben genau dieser Nationalismus, der oft vergessen wird. Die Fahnen, die aus dem Schrank geholt wurden, die Politiker, die die Einheit in den Himmel lobten. Nachdem eine gemeinsame neue Verfassung nicht in Sicht war, musste das Nationalgefühl irgendwo anders herkommen. Und wo bekam man auf einmal deutsches Nationalgefühl her?



Es war wohl auch die ethnisch-nationalistische Rhetorik von westdeutschen Politiker*innen in den Wendejahren, die zum Anstieg rechter Gewalt in den 1990ern mit beitrug: “[D]er alte Ethnonationalismus der DDR [wurde] noch verstärkt (vgl. Mau 2019: 149). „Den nun ehemaligen DDR-Bürgern wurde zu verstehen gegeben, dass sich ihre Stellung und ihr Status vor allem vom Deutsch-Sein ableitet [...]“ (Mau 2019: 140).” Und auch heute noch knüpfen die AfD oder Pegida an diese Ideen an. Diese Gruppen nutzen die Zugehörigkeit zur “deutschen” Nation, um in Zeiten von wirtschaftlicher Unsicherheit die eigene Gruppe aufzuwerten und andere Gruppen auszuschließen.


Der Fokus auf Abstammung, der mit der Wiedervereinigung einherging, wird von AfD & Co. heute wieder aufgegriffen. Und auch der Nationalismus des Einheitsfeiertags - im Westen wie im Osten - sollte deswegen hinterfragt werden: wer beruft sich hier auf eine nationale Gruppe, wer wird ausgeschlossen und welches Ziel soll damit erreicht werden? Genau deswegen ist es so wichtig, den banalen Nationalismus im täglichen Leben zu verstehen. Nationalismus, so banal er auch sein mag, braucht immer eine Abgrenzung und ein Feindbild. 


Achtung: Hier endet der Sachtext und hier beginnt meine persönliche Meinung!


Nationalismus in Maßen ist wichtig und richtig, heißt es oft. Es ist okay, auf “Deutschland” stolz zu sein, andere Länder haben doch auch Nationalstolz. Wir brauchen die “innere Einheit” und den vielbeschworenen “gesellschaftlichen Zusammenhalt”, um als Land nicht auseinanderzufallen - es darf nur nicht ausarten.


Dem kann ich nicht zustimmen. Ein Land - gerade Deutschland! - ist für mich wenig wert, solange es keine Wertegemeinschaft ist: Einigkeit statt Einheit. Wir haben uns darauf geeinigt, nett zueinander zu sein, niemanden zu verfolgen und uns an Gesetze zu halten. Und ein Land, welches die eigene “Einheit” feiert und gleichzeitig seine selbst gewählten Werte mit Füßen tritt - worauf soll ich da stolz sein? Ein Land, das “Erinnerungskultur” ruft und an dessen Grenzen wieder Menschen nach Hautfarbe sortiert werden? Und auch auf die “Einheit”, die 1990 passiert ist, kann ich nicht stolz sein, denn ich habe für sie nichts getan und anscheinend hat man aus ihr auch nicht viel gelernt.


Macht dieser Blogpost nicht die Leistungen all jener zunichte, die in den letzten dreißig Jahren an “gleichwertigen Lebensverhältnissen” zwischen Ost und West gearbeitet haben? Dürfen wir die Wiedervereinigung denn nicht feiern? Zu unserer Wertegemeinschaft gehört zum Glück die Freiheit, zu feiern - aber auch die Freiheit, zu kritisieren. Und ich kritisiere, dass jährlich aufs Neue die Wertegemeinschaft gefeiert wird, ohne Energie darauf zu verwenden, eine Vision für den Erhalt dieser Wertegemeinschaft vorzustellen. Und das heißt für mich nicht "Grenzschutz" und Waffenproduktion, sondern Demokratieförderprogramme und ein niedrigerer Betreuungsschlüssel in Schulen und Kitas.


Deutschland hat keinen Nationalfeiertag. Deutschland braucht keinen Nationalfeiertag. Und einen “Tag der deutschen Vielfalt” fände ich persönlich viel netter.


Hanna



“Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen,

von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.

Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Saarland, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet. Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.


Art. 3 § 1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.”



Und für alle, die noch Lust auf eine Portion Einheitshumor hinterher haben:


DB am Tag der deutschen Einheit
DB am Tag der deutschen Einheit
DB eine Woche zuvor
DB eine Woche zuvor

Quellen:


Anderson, Benedict R. Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism [1983]. London, New York: Verso, 2006.


Billig, Michael. Banal Nationalism. London, Thousand Oaks, New Delhi: Sage Publications, 1995.




eigene Arbeit:

Müller, Hanna. Feuds, Bunkers, and the Continent: Discursive Constructions of National Identity in Brexit and EU Election Coverage. 2025




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